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Von Judith Kuckart
Schule fürs Leben
Ich habe bis zum Alter von 14 Jahren aus (traurigen) familiären Gründen einen Teil meiner Kindheit Am Winterberg 72 in Hörde verbracht, in einer Stahlarbeitersiedlung. Hörde ist eine Station in meinem Leben geworden, an der ich viel über das Leben gelernt habe. Hörde ist einer der wenigen Orte, die mir etwas versichern können: Was ich mit dem Gefühl des Kindes nicht gelernt habe, kann ich mit dem Gefühl einer Erwachsenen nicht nachholen.
Hörde war also eine Schule fürs Leben?
Ja.
Woran erinnere ich mich, wenn ich jetzt hier entlang gehe?
Vielleicht daran, dass Heimat ein Raum aus Zeit ist?
Der alte Raum Hörde aus meiner Kindheit ist nämlich verschwunden, auch wenn die Häuser Am Winterberg/Am Sommerberg noch stehen, wo damals jeder, egal ob er aus Oberschlesien, Spanien, der Ukraine, Polen, Ungarn oder aus Anatolien kam, Mitglied der Straßengemeinschaft Am Winterberg/Am Sommerberg werden konnte. Deren Herzstück war die Kohle, die Arbeit, das Werk.
Stadtbeschreiberin Dortmund 2020
Als ich als Stadtbeschreiberin wieder nach Dortmund zurückkam, hatte man einen Auftrag für mich. Ich sollte vom Strukturwandel erzählen. Die Arbeiterstadt ist eine andere geworden. Als ich kam, erinnerte ich mich an das Früher und war neugierig auf das Jetzt. Der Produktionsort der Montanindustrie ist (fast) zu einem Zentrum für Arbeitsforschung und Dienstleistung, für Biomedizin, Logistik, Informationstechnologie, sowie Mikro- und Nanotechnologie geworden. Dortmunds Geschichte hat schon immer von Verwandlungen erzählt, in denen alchemistische Vorstellungen weiterlebten: Ein jedes lässt sich verwandeln in etwas anderes, Unreines kann etwas Reines werden, etwas unterirdisch Erkaltetes kann oben auf der Erde wieder leuchten, glühen, brennen, wärmen. Denn was lehrt die Geschichte des Ruhrbergbaus anderes, als dass sich aus Kohle Gold machen lässt?
Was wird uns die Zukunft minus Kohle lehren? fragt sich nicht nur Dortmund.
Welche Verwandlungen stehen jetzt an?
Davon sollte und wollte ich erzählen.
Denn eine Stadt existiert nur, wenn sie auch auf der literarischen Landkarte vorkommt.