Es fällt Menschen oftmals schwer, sich einzugestehen, dass sie einfach großes Glück hatten. Ihr Vermögen haben sie sich erarbeitet, selbst wenn es vor allem durch den Tod eines Verwandten auf dem Konto gelandet ist. Der Erfolg in Film, Musik oder Internet rührt von den eigenen Anstrengungen her und nicht davon, dass eventuell die richtigen Personen zur richtigen Zeit ein Auge auf die damals noch weitaus weniger erfolgreichen Kunstschaffenden geworfen haben. Wer am Kickertisch gewonnen hat, tat dies aufgrund der eigenen Bestleistung und nicht wegen der zwanzig Bier, die sich das gegnerische Team vorher in Rekordzeit in die neuronale Dachrinne gescheppert hat. So hält man sich fest an der eigenen Wirksamkeit und kann weitaus einfacher erklären, warum andere nicht diesen bestimmten Punkt im Leben erreichen.
Dieses Eingeständnis des Glücks geht oft mit der Erkenntnis einher, dass man nicht zu den Menschen gehört, die deutlich mehr Pech in ihrer Biografie hatten. Und das ist das nächste Problem. Man will ja weiter dazugehören. Man will nicht offen zugeben, dass man einen besseren Status hat. So erzählt Olaf Scholz, dass er noch immer zur Mittelschicht gehöre, oder die alte Binsenweisheit, dass Geld nicht glücklich mache, wird aus dem Sack gezaubert. Es ist natürlich nur Zufall, dass sie ihre Freundschaften weitaus seltener zu ärmeren Menschen pflegen. Man läuft sich halt so selten über den Weg, wie soll da denn etwas entstehen? Da kann man ja nun wirklich nichts dran ändern.
Aber wenn Menschen gut in etwas sind, dann darin, sich selbst etwas vorzumachen. Geld macht nur dann nicht glücklich, wenn man eh schon genug davon hat. Wer täglich den Posten der Armutsgrenze grüßt, wäre sehr wahrscheinlich wesentlich glücklicher, wenn der Tagesablauf nicht darauf ausgerichtet sein muss, irgendwie über die Runden zu kommen. Dann ist Zeit und Geld dafür da, mal einen Kinofilm zu sehen, in den Urlaub zu fahren, generell Kultur zu genießen oder lecker essen zu gehen. Dann ist Zeit und Geld da, ein schönes Leben zu führen.
Wer in dieser Welt also sein eigenes Glück nicht sehen will und nur auf die eigenen Leistungen pocht, macht damit im Umkehrschluss unzählige Menschen selbst dafür verantwortlich, dass sie nicht aus ihrem elendigen Loch herauskommen. Der ignoriert die gesellschaftlichen Bedingungen, die oben am Rande dieses Abgrundes stehen und immer wieder Leitern umstoßen, Steine hinabwerfen und sich alle Mühe geben, dass es oben nicht zu voll wird.
Das heißt nicht, dass niemand den Aufstieg schaffen kann. Aber dafür braucht es einiges an Durchhaltevermögen – und vor allem eben jenes Glück, genau die Leiter zu nehmen, die nicht umgeworfen wird. Ich selbst habe riesiges Glück, dass ich mittlerweile mein Geld damit verdienen kann, so einen Text zu verfassen. Ich hatte riesiges Glück, dass ich ein Stipendium bekommen habe, um mein Studium zu finanzieren, mit dem ich mir die Grundlage schaffen konnte, mit Kunst und Kultur Geld zu verdienen. Ich hatte riesiges Glück, dass ich nicht eine weitere Zahl der Statistik geworden bin, die klar zeigt, dass Menschen ohne akademischen Hintergrund eben nicht studieren gehen, eben nicht das Abitur schaffen, eben nicht ans Gymnasium kommen.
Und das kotzt mich an! Das macht mich wütend! Das darf nicht so sein! Es kotzt mich an, dass Menschen vergessen, wo sie herkommen. Es macht mich wütend, dass Menschen mit den finanziellen Kapazitäten so tun, als gäbe es dieses Ungleichgewicht nicht. Es darf nicht sein, dass Armut und Reichtum wie Naturgesetze behandelt werden, die halt einfach so sind. Was soll man schon dagegen machen? So war es halt schon, seit wir denken können. Wie soll das denn anders aussehen? Das wäre dann ja Kommunismus und weißt du eigentlich, wie viele Menschen dadurch schon gestorben sind?
Also finden wir uns damit ab, lassen die Schere immer weiter aufgehen, solang wir selbst zumindest irgendwo in der Mitte sitzen. Nur vergessen wir, dass genau dort die Schere am besten schneidet. Hier muss der Druck beginnen, hier kann am ehesten etwas verändert werden. Denn auch wenn es oft nicht so scheint, sind die Menschen in der Mitte der Schere weitaus näher am armen als am reichen Ende dieses gesellschaftlichen Handwerkszeugs. Daher sollte nicht infrage gestellt werden, wo unsere Solidarität liegt und wo wir alle Verbindungen kappen. Wer viel hat, will meist mehr, wer wenig hat, bekommt oft nicht mal das Nötigste.
Diese Menschen werden wahrscheinlich nie lesen, was ich hier wütend in meinen Rechner tippe, um es in Magazinen veröffentlichen zu lassen, die sich um die Bereiche des Lebens drehen, für die eine gewisse Grundsicherung notwendig sein muss, um sie in Anspruch zu nehmen. Aber es lesen die Menschen, die in der Position sind, etwas zu verändern, die Mut zusprechen und Unterstützung leisten können. Das hier liest die Mitte der Schere, die den Anfang machen kann. Denn irgendwann wird den Menschen im Abgrund das Wasser bis zum Hals stehen und wenn sie damit nach oben treiben, stehen hoffentlich genügend Menschen auf ihrer Seite.
„Glück gehabt“ ist im Rahmen des Projekts STROBO:Stimmen erschienen, eine Kooperation zwischen literaturgebiet.ruhr und STROBO