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von Christoph Vormweg
Jubiläum
von Christoph Vormweg
Die 100ste Ausgabe des Schreibhefts erscheint am 1. März 2023
Literaturzeitschriften erscheinen meist in großen Verlagen. Da gibt es finanzielle Rückendeckung und Planungssicherheit. Beim Schreibheft ist das anders. Hinter ihm steht seit mehr als vier Jahrzehnten ein hartnäckiger Einzelkämpfer: der 1956 geborene Norbert Wehr. Für jede Ausgabe muss er neue „Projekthilfe“ auftreiben: bei Stiftungen, Mäzenen, dem Literaturfonds et cetera. Denn anders als zum Beispiel in Belgien und Österreich gibt es in Deutschland für Zeitschriften keine Dauerförderung.
Paul Ingendaay, Europakorrespondent im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, nennt das Schreibheft „den Spürhund für die eigensinnigste internationale Literatur überhaupt – mit Namen, die man wirklich nur da findet: wagemutig, unkonventionell und mit einem Mammutgedächtnis.“ Jürgen Ritte, Professor für Germanistik an der Sorbonne Nouvelle in Paris, spricht deshalb von der heute „wichtigsten deutschen Literaturzeitschrift“. Das bezeugen Auszeichnungen wie der Hermann-Hesse-Preis oder der Alfred-Kerr-Preis sowie der fünfbändige Reprint im Jahr 1998. Schon vor Jahren hat das Wolfram Schütte in der Frankfurter Rundschau mit den Worten auf den Punkt gebracht: „Das Schreibheft ist das einzigartige A & O aller fortgeschrittenen (Welt-)Literatur-Kenner & -Liebhaber. Ein zweimal jährlich bestelltes weites Feld, auf dem man a) das kommende Gras wachsen hört und b) essayistisch geerntet wird.“
In Essen nahm alles seinen Anfang. 1977 gründeten Ulrich Homann und Wilfried Bienek das Schreibheft. Ein Jahr später stieß Norbert Wehr als junger Student zur Redaktion und übernahm 1982 allein die Herausgeberschaft und das Risiko. Den „Standpunkt am Rande“, in der literarischen Diaspora des Ruhrgebiets, mochte er von Anfang an. Das bedeutete für ihn: mehr Unabhängigkeit, mehr Zurückgezogenheit. Obwohl Wehr seit vielen Jahren in Köln lebt, ist die Schreibheft-Basis in Essen geblieben: im eigens dafür gegründeten Rigodon-Verlag, dem „juristischen Dach“. Die „unsichtbare Arbeit des Herausgebers“ bedeutete für ihn immer, die Konkurrenz von zehn bis fünfzehn Literaturzeitschriften zu studieren: ob Akzente, Literaturmagazin oder Die Horen. So entwickelte er seine abweichende, eigene „Handschrift“.
Norbert Wehr steht für die Suche nach Schriftstellern, die mit stilistischer und inhaltlicher Kompromisslosigkeit den Buchmarkttrends trotzen: auch in kleinen Ländern wie Dänemark oder Serbien. Zu seinen Aushängeschildern wurden in der Lyrik Inger Christensen und Thomas Kling (links im Bild) oder Schriftsteller der Pariser „Werkstatt für potentielle Literatur“ Oulipo wie Jacques Roubaud. Wehrs Prinzip heißt Exklusivität. Das Schreibheft soll „kein Durchlauferhitzer“ für Texte sein, die später als Buch erscheinen. Denn das, sagt er im Interview, mache jede Ausgabe „länger haltbar“. Dossiers mit exklusivem Material, ob zu Clarice Lispector oder Pier Paolo Pasolini, würden auch Jahre nach Erscheinen angefragt.
Prägungen hat Wehr viele: angefangen mit Nicolas Born, der ihm zu Beginn unverblümt Mut zusprach, oder Jürgen Manthey, bei dem er an der Universität in Essen studierte. Dann: Peter Handke, Herman Melville, Raymond Queneau. Die Liste ist lang und spiegelt die Konstanten im Schreibheft. Für die noch lebenden Autoren gibt Wehr auch seine geliebte Zurückgezogenheit auf und präsentiert sie in Essen im Grillo-Theater, in der Buchhandlung Proust, im LeseRaum oder in der Lichtburg (Foto: mit Orhan Pamuk). Oder er stellt sie als Kritiker in Zeitungen und im Hörfunk vor.
Nach der 50. Schreibheft-Ausgabe hat Norbert Wehr ans Aufhören gedacht – auch weil die Medien kaum noch mitspielten. Die Zeiten, als Zeitschriften regelmäßig rezensiert wurden, waren vorbei. Heute gibt es nur noch selten eine Kritik. Bei der 100. Ausgabe wird das natürlich anders sein. Der Lockvogel ist der Träger des Deutschen Buchpreises Frank Witzel: mit einem umfangreichen Essay über „100 Vergessene, Verkannte, Verschollene“ unter den Schriftstellern. Witzel sei, so Wehr, genauso alt, sie hätten beide „dieselben Generationserfahrungen“ und eine „ähnliche literarische Sozialisation“. Und da dieser Essay „sehr privat“ sei, also „keinen objektiven Anspruch“ erhebe und in derselben Zeit ansetze, in der das Schreibheft entstand, sei er „indirekt auch eine Geschichte der Zeitschrift“.
Und danach? Die 100. Schreibheft-Ausgabe wird nicht die letzte sein. Norbert Wehr reizen noch viele Themen: etwa das Verhältnis von Literaturnobelpreisträger Peter Handke zum Film oder die verheißungsvolle Planung einer „Zeitschrift für Literatur“ in Italien, die nie erschien. Auch in Zukunft wird er sich an seine erprobte Vorgehensweise halten und seine Geschichten, so Paul Ingendaay in der FAZ, „auf viele Arten angehen und in verschiedenen Tonlagen originell umspielen.“ Wehrs Credo lautet: „Bloß keine offenen Türen einrennen“. Für seine Ausgrabungen – auch in der niederländischen, schwedischen oder polnischen Literatur – lässt er sich stets von Experten beraten, unter ihnen Gerd Schäfer oder über viele Jahre Hermann Wallmann. Jede Ausgabe hat dabei einen kompositorischen Anspruch: Leserinnen und Leser sollen die Zeitschrift von vorne bis hinten „wie einen Text“ lesen können. Es muss einen übergeordneten Zusammenhang geben: durch literarische Anspielungen und Querverweise. Ihnen nachzuspüren macht bei der Lektüre einen ganz eigenen Reiz aus.
Im Schreibheft-Zentrum werden auch weiterhin die Dossiers stehen. Entdeckt hat Wehr dafür immer wieder Übersetzer, die sich als Spezialisten für hoch talentierte, aber ignorierte oder unterschätzte Schriftsteller entpuppten: so vor einigen Jahren Maximilian Gilleßen, der im Klein-Verlag „zero sharp“ seine Übersetzungen der französischen Avantgarde-Autoren Raymond Roussel und René Daumal lancierte und zu beiden Schreibheft-Dossiers beisteuerte. Der Anspruch sei, so Wehr, „Dossiers zu machen, die informieren, die zur Diskussion anregen, die im besten Fall Diskurse anstiften, aber die sich auch anders wahrnehmen lassen als solche Potpourris“.
Die Liste der Highlights in der Schreibheft-Geschichte ist lang. Paul Ingendaay und Jürgen Ritte steuerten erstmals im deutschsprachigen Raum ausführliche Essays über den postmodernen US-Autor William Gaddis und den Oulipo-Autor Georges Perec bei. Die Ausgabe über den „Eigensinn der Comics“ zählte genauso zu den Überraschungen wie der vom Schreibheft initiierte Übersetzerstreit um zwei konkurrierende Moby-Dick-Übersetzungen. Maren Jägers Porträt des „Essener Leuchturms“ und Annette Brockhoffs Essay „Schreibheft – Gebrauchsanweisung“ entführen da auf schreibheft.de detailreich zurück in frühere Zeiten.
Wer sich für neue Töne in der deutschen und internationalen Literatur interessiert, wird auch in Zukunft um das so entdeckungsfreudige Schreibheft nicht herumkommen. Bleibt zu hoffen, dass es weiter die Subventionen erhält, die eine so außergewöhnliche Zeitschrift für Literatur nötig hat. Auch die akademische Forschung in eigener Sache hat Norbert Wehr (Foto: Dieter Eikelpoth) bereits im Visier. Den Vorlass des Schreibheft-Archivs mit Korrespondenzen, Original-Manuskripten und anderen Dokumenten aus 46 Jahren hat er der „Stiftung Insel Hombroich“ anvertraut. Es lagert auf der ehemaligen Nato-Raketenstation bei Neuss, dort, wo der Dichter Thomas Kling, mit dem Norbert Wehr auch heute noch imaginäre Gespräche führt, bis zu seinem Tod lebte.
Am 16.03. gibt es im LeseRaum Essen aus Anlass der 100. Schreibheft-Ausgabe einen Abend mit dem Metropolenschreiber Ruhr Ingo Schulze, Frank Witzel und Norbert Wehr. Akazienallee, 19:30 Uhr.