Übersetzungsprojekt

Didier Daeninckx und sein Duisburger Übersetzungsteam

Im Ruhrgebiet macht man's halt selbst. Deshalb gibt es die hochgelobten französischen Krimis nun auch auf deutsch

Buchvorstellung Artana! Artana! in Duisburg. Rainer Gutenberger, Bernd Klähn, Berit Fischbach, Ulrike Hebel

Von Ralf Koss

Wer vom französischen Autor Didier Daeninckx erzählt, spricht zwangsläufig irgendwann auch vom Ruhrgebiet. Recherchen für eines seiner Bücher führten ihn vor fünfzehn Jahren in den Westen der Stadtlandschaft, und anschließend ist das Ruhrgebiet immer öfter auch zu ihm gekommen. Nicht das ganze Ruhrgebiet, zugegeben, aber vier Menschen, die die Kultur und Mentalität dieser Stadt der Städte verkörpern, und auch deshalb ungewöhnliche Wege gingen, um dem deutschen Lesepublikum Romane von Didier Daeninckx zugänglich zu machen.

In Deutschland ist der 1949 geborene französische Autor nur wenig bekannt, trotz mehrerer Versuche von Independent-Verlagen, deutsche Leserinnen und Leser für seine gesellschaftskritischen Kriminalromane zu interessieren. In Frankreich gehören Werke von Didier Daeninckx zur Schullektüre. Er ist einer jener Autoren, die während der 1980er Jahre dem französischen Kriminalroman neue Themen und erzählerische Formen erschließen. „Neo-polar“ wird diese literarische Strömung später genannt. Nicht mehr die Psyche und private Beziehungen stehen im erzählerischen Zentrum, sondern die Gesellschaft, deren Machtverhältnisse und historische Schuld. In den Medien ist Daeninckx‘ Urteil zu politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen gefragt. Mit Illustratoren arbeitet er schon lange zusammen, und er beschäftigt sich immer wieder neu mit dunklen Flecken der französischen Geschichte. Wer sich für Frankreichs Literatur seit früher Jugend in den 1970er Jahren interessiert, wie Rainer Gutenberger und Ulrike Hebel aus Duisburg, kennt den Autor Didier Daeninckx schon lange.

Als sich für den in Frankreich 2010 erschienenen Roman „Galadio“ kein deutscher Verlag fand, wurden aus Literaturenthusiast*innen Übersetzende. Ein Roman, der in großen Teilen in Duisburg spielt, muss doch in Duisburger Buchhandlungen erhältlich sein, dachte sich die Romanistin Ulrike Hebel, deren Aufgaben in einer Schulleitung sie aber sehr beanspruchten. Alleine wollte sie eine Übersetzung nicht angehen, im Team aber konnte es neben der Erwerbsarbeit gelingen. So war es auch für den Germanisten und Soziologen Rainer Gutenberger, der als Berater für wissenschaftliche Publikationen tätig war, für den Inhaber einer auch auf französische Literatur spezialisierten Buchhandlung in Duisburg, Jürgen Donat, und die Vorsitzende der deutsch-französischen Gesellschaft Duisburg, Waltraud Schleser. In Krefeld fand sich der Magenta Verlag, der den Roman veröffentlichen wollte. Nicht oft bereichert die Übersetzung eines Romans nicht nur den deutschen Buchmarkt, sondern trägt zugleich zu städtischer Identität bei und stärkt das kulturelle Selbstbewusstsein einer Stadt. In Duisburg war das der Fall. Der französische Botschafter würdigte die Übersetzung mit dem Prix Joseph Rovan. Dieser Preis gilt besonderen Leistungen im zivilgesellschaftlichen Dialog zwischen Deutschland und Frankreich.

Didier Daeninckx erzählt in „Galadio“ vom Schicksal des schwarzen Duisburgers Ulrich Ruden ab den Monaten kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Er wurde während der Ruhrbesetzung 1923 als Sohn einer Ruhrorterin und eines französisch-senegalesischen Besatzungssoldaten geboren. Über Berlin verlässt er das nationalsozialistische Deutschland nach Frankreich und kehrt als französischer Soldat zum Ende des zweiten Weltkriegs nach Duisburg zurück. „Galadio“ ist ein Beispiel für die vielschichtige Erinnerungsarbeit, die Daeninckx in seinen Romanen vornimmt. Am Schicksal von Ulrich Ruden werden die Folgen von Kolonialismus, Rassismus und nationalistischer Ideologie erfahrbar – sowohl in Deutschland, als auch in Frankreich.

Nach der Übersetzung von „Galadio“ tauschten sich Ulrike Hebel und Rainer Gutenberger mit Didier Daeninckx weiter aus. Bald gesellte sich der an der Universität Bochum lehrende, habilitierte Amerikanist Bernd Klähn dazu. Er hatte ungenannt schon an der Galadio-Übersetzung mitgearbeitet. Viele Begegnungen in unterschiedlicher Besetzung führten zu einer engen Verbindung zwischen dem Autor und den drei Duisburger*innen. Man schrieb sich, diskutierte über Literatur, Gesellschaft und Politik in Frankreich. Buchmessen sowie Literaturfestivals waren Orte der Begegnung. In jener Zeit schrieb Didier Daeninckx sein Buch über den Dschungel von Calais, jener 2016 aufgelösten Zeltstadt mit fast 9000 Flüchtlingen. Die Duisburger nahmen Anteil. Er begann den Roman „Artana! Artana!“ zu schreiben. Sie verfolgten den Fortschritt. Jedem seiner Werke wünschten sie die Übersetzung, aber erneut zeigte kein deutscher Verlag Interesse. So mussten sie weiter selbst dafür sorgen. Die Übersetzungsrechte für den Roman „Dans le jungle“, eben den Dschungel von Calais, waren allerdings nicht finanzierbar. Doch Lizenzen für Romane ohne aktuelle weltpolitische Bedeutung waren anscheinend günstiger zu erhalten. „Artana! Artana!“ zu übersetzen, das konnte möglich werden. Im Vorfeld der Olympischen Spiele hofften die Duisburger auf zusätzliches Interesse für den Roman, der auch von der kommunalen Korruption beim Bau der Sportstätten erzählt. Der Titel ein Warnruf der Kleinkriminellen und Drogendealer in den Banlieues, wenn sie bei ihren Geschäften durch Polizei oder Unbekannte gestört werden.

Erneut sollte der Roman im Magenta-Verlag erscheinen. Doch die Covid-Pandemie bremste nicht nur die 2019 begonnene Übersetzung immer wieder aus, sie zwang auch den Verleger, die wirtschaftlichen Risiken zu minimieren. Er sah sich außer Stande, einen weiteren Roman von Didier Daeninckx vorzufinanzieren. Doch die Duisburger Übersetzer*innen ließen sich nicht beirren. Sie übersetzten weiter, ohne die Sicherheit einer Veröffentlichung, geschweigen denn, dass sie die Übersetzungsrechte an dem Roman besaßen.

Der französische Autor und seine deutschen Fans/Übersetzer*innen: v. l. n. r.: Bernd Klähn, Didier Daeninckx, Ulrike Hebel

Die Diplomübersetzerin Berit Fischbach ergänzte inzwischen das Dreierteam. Die Liebe zur Literatur und das Sprachgefühl für beide Sprachen brachten die vier mit, auch wenn sie unterschiedlich erfahren im literarischen Übersetzen waren. Alles Weitere entwickelte sich bei ihren wöchentlichen Treffen, in denen am praktischen Beispiel „Artana! Artana!“ die meisten grundsätzlichen Überlegungen zur Übersetzungsarbeit kontrovers diskutiert wurden. Denn ihre Arbeit betrachteten sie vom ersten bis zum letzten Satz des Romans als Gemeinschaftswerk. Alle übersetzten alles, und alle nahmen die Wörter in jedem Satz so ernst, als übersetzten sie Lyrik. Aus vier verschiedenen Versionen musste die literarisch beste Lösung für die zu übersetzenden Passagen gefunden werden.

Dabei waren es dieselben Fragen, vor denen alle Übersetzerinnen und Übersetzer stehen. Wie frei übersetzen wir, um den Rhythmus des Abschnitts zu bewahren? Wie können Mehrdeutigkeiten des französischen Satzes bei eindeutiger wirkenden deutschen Entsprechungen erhalten bleiben? Welches deutsche Register entspricht der Sprache des französischen Raps? Welches Register erhalten welche Personen in den Dialogen, um ihre soziale Position in der Banlieue-Gesellschaft für Deutsche verständlich zu markieren? Wo geben wir etwas verloren und gewinnen dafür an anderer Stelle, was es so im Französischen nicht gab, aber im Sinne des Autors ist? Als der letzte Satz des Manuskripts auf dem Papier stand, waren sie sich auch in einem gemeinsamen Resümee einig: „Wenn vier Übersetzer gleichzeitig übersetzen, spielt Zeit keine Rolle.“ Dass bei einem solchen Arbeiten wirtschaftliche Fragen ohne Belang sind, braucht keine weitere Erklärung. Hier arbeiteten Menschen, die die Literatur und die Sprache lieben, die getragen wurden vom Glauben an die Kunst und an grenzüberschreitendes Verstehen.

Mit voranschreitender Übersetzungsarbeit stand für die Duisburger der Entschluss fest: sie selbst kaufen die Rechte und übernehmen auch die Druckkosten, zumal der Magenta-Verlag für den weiteren Weg in den Buchhandel Unterstützung anbot. Wer sich der Literatur derart verschreibt, klärt auch ohne Erfahrung mit den üblichen Gepflogenheiten der Buchbranche die Frage, von der nun alles abhing. Als im Jahr 2023 den renommierten französischen Verlag Gallimard ein Brief aus Deutschland erreichte, sah der nicht nach den üblichen Anfragen für die Lizenzabteilung aus. Bernd Klähn wollte im Namen aller vier die Übersetzungsrechte von „Artana! Artana!“ für Deutschland erwerben. Es erwies sich von Vorteil, einen prominenten Fürsprecher zu haben. Dieser Fürsprecher war Didier Daneninckx selbst. Er vertraute dem Übersetzerteam und setzte sich beim Verlag für sie ein. Die Zusage kam, Lizenzgebühren wurden gezahlt, die Übersetzung erhielt den letzten Schliff.

Die vier Übersetzer*innen von Didier Daenninckx: Berit Fischbach, Ulrike Hebel, Bernd Klähn, Rainer Gutenberger

Vielleicht spielte auch die Geschichte von „Artana! Artana!“ und die Biografie von Didier Daeninckx bei diesem besonderen Engagement eine Rolle. In „Artana! Artana!“ erfährt ein Bildungsaufsteiger, der Tierarzt Erik Kertezer, wie sehr sich das Vorstadtviertel seiner Kindheit gewandelt hat. Didier Daenickx greift für solche Figuren auf das eigene Erleben zurück. Er selbst entstammt einer Arbeiterfamilie und kennt die in der Hochkultur wenig beschriebenen prekären Milieus. Auch die vier Übersetzer stammen aus Arbeiterfamilien und eine höhere Bildung war bis zu ihrer Generation nicht vorgesehen oder hohe Hürden mussten überwunden werden. Erst die Bildungspolitik in den 1960er Jahren, vor allem die der SPD, hat ihre Karrieren im akademischen Milieu ermöglicht.

Didier Daeninckx wohnte selbst zeit seines Lebens in einer der Pariser Banlieues und musste umziehen, nachdem er den Roman „Artana! Artana!“ geschrieben hatte. Zu deutlich war im fiktiven Courvilliers das reale Saint Denis erkennbar. Denn fast alles, was Didier Daeninckx schreibt, findet sich als Tatsache der Wirklichkeit wieder. In Hochhäusern funktionieren die Aufzüge nicht mehr, und die Alten kommen deshalb nicht mehr aus dem Haus. Autos werden auf offener Straße repariert, ungeachtet herauslaufender Öle. Niemand kümmert sich darum, weil bei der letzten Wahl diese Ignoranz Teil eines Deals war, um Stimmen zu kaufen.

Daeninckx‘ Empörung über die Verhältnisse motiviert ihn zu seinen Romanen. Seine Recherchen vor Ort, in Archiven und unzählige gesammelte Zeitungsmeldungen geben ihm das Material, um die Wirklichkeit seiner Romane zu entfalten. Doch dokumentarische Literatur reicht ihm nicht als Ziel seines Schreibens. Weniger indem er sein Material als Wirklichkeit einer Handlung verdichtet, als dass er es mit motivischen Verweisen auf die Literaturgeschichte unterfüttert. Einerseits lässt sich „Artana! Artana!“ ohne literarische Bildung als Spannungsliteratur lesen, in der sich die Welt der Banlieues entfaltet. Andererseits erkennt der literarisch Gebildete die sorgsame Konstruktion mit Leitmotiven und Anklängen an große Werke der Weltliteratur. Bezüge zu Herman Melville und Mark Twain sind angelegt.

Angesichts dieser literarischen Qualität überrascht es, dass Didier Daeninckx nie einen deutschen Hausverlag fand. Verteilt erschienen seine Romane seit Ende der 1980er Jahre auf deutsch. Im Rotbuch Verlag, im Distel Verlag, bei Wagenbach, Liebeskind und im Verlag Assoziation A. Zweifellos wäre das anders geworden, wäre das Duisburger Übersetzerteam schon länger in Entscheidungsprozesse von Verlagen eingebunden gewesen. Dass sie den deutschen Leserinnen und Lesern die nächste Lektüre eines Werks von Didier Daeninckx ermöglichen wollen, versteht sich von selbst. Die Übersetzung seines Kurzromans „Caché dans la maison des fous“ wird nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Didier Daeninckx: Galadio
Roman, aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt von: Waltraut Schleser, Rainer Gutenberger, Ulrike Hebel, Jürgen Donat
Taschenbuch, 9,90 Euro

Didier Daeninckx: Artana! Artana!
Roman, aus dem Französischen übersetzt von: Berit Fischbach, Rainer Gutenberger, Ulrike Hebel, Bernd Klähn
Taschenbuch, 10 Euro

 

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