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Das Taranta Babu ist ein ungewöhnlicher Ort. Dortmunds älteste Buchhandlung, zu der auch ein Café und ein Veranstaltungsraum gehört. Ein Ort der Gemeinschaft, der Integration und der Leseförderung. Als Hasan Şahin das Taranta Babu für 45 Jahren gegründet hat, lebten im Dortmunder Kreuzviertel vor allem Arbeiter und Rentner, viele davon alleinstehend. Hasan hat ihnen eine Heimat gegeben und dabei selbst eine gefunden. Im Alter von 78 Jahren ist er nun gestorben.
Wahrscheinlich haben viele Menschen gar nicht gewusst, wie Hasan Şahin mit Nachnamen hieß. Er war immer da, in seinem Taranta Babu, saß vor dem Haus in der Sonne, diskutierte im Buchladen, brachte Kaffee und Tee. Oft im gestreiften Hemd, immer mit Bart und wachem Blick. Er hat diesen Ort erfunden und geprägt, wahrscheinlich mehr Bücher verschenkt als verkauft und immer wieder seine Philosophie erklärt, seine Idee von einem gewaltfreien Widerstand.
Der Name Taranta Babu ist dabei Programm. Es handelt sich um eine äthiopische Widerstandskämpferin, die auch in Italien gegen die Faschisten unter Mussolini aktiv war. Hasan lernte sie schon in der Schule kennen. „Entscheidend war“, so erzählt er, „dass mein Literaturlehrer im Gymnasium mein Leben verdorben hat.“ Das war so ein typischer Witz von Hasan, natürlich meint er das positiv und liebevoll. „Weil wir Bücher von Nazim Hikmet gelesen haben, dem berühmtesten Erzähler der Türkei. Er hat auch eine wunderschöne Erzählung über Taranta Babu geschrieben.“
Nazim Hikmet war in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts oft inhaftiert und schrieb Briefe an Taranta Babu. Sie stecken voller Hoffnung, deshalb hat Hasan sie als Namensgeberin für seine Buchhandlung gewählt. Und immer wieder seine Utopie erläutert: „Ein Leben, einzeln und frei, wie ein Baum. Geschwisterlich wie ein Wald. Das ist unsere Sehnsucht.“
Eine multikulturelle Gesellschaft hat Hasan in seiner Kindheit erlebt, auf einer Insel vor Istanbul, zusammen mit Griechen, Juden, Armeniern. Dann kam der Militärputsch 1960, viele Freunde haben das Land verlassen. Hasan studierte Fotografie, wurde Kommunist und ist es immer geblieben. Er wollte Plakate und Bücher drucken. Aber seine Gruppe hatte kein Papier. Also klauten sie den Lkw einer Druckerei, wurden erwischt, wurden zu lebenslanger Haft verurteilt. Hasan floh, wie seine Freunde. „Dann bin ich hier in Dortmund gelandet“, erzählte er. „Mein Traum war schon in Istanbul, einen kleinen Verlag zu gründen. Für Kinder- und Jugendliteratur, die finde ich enorm wichtig.“
In Dortmund kam Hasan in ein kompliziertes politisches Umfeld. Die Bundesregierung hatte einen Anwerbestopp für Arbeitskräfte aus dem Süden erlassen. Die meisten sogenannten Gastarbeiter, die bereits in Deutschland waren, blieben. Und Hasan Şahin und seine Freunde wollten einen Ort der Gemeinsamkeit und der Begegnung schaffen.
Die Idee eines Nachbarschaftsvereins entstand 1974. „Der Zweck dieses Vereins war“, erzählte Hasan, „dass wir eine gemeinsame Sprache brauchen, und diese Sprache ist Deutsch. Drumherum müssen wir nicht palavern.“ Es klang ein bisschen skurril, wenn Hasan diese Sätze mit großer Überzeugung und ebenso hörbarem Akzent sagte. Deutsch zu sprechen bedeutete nie für ihn, seine Wurzeln zu verleugnen oder sich anzupassen. Aber die Sprache ermöglicht Kontakte, Diskussionen, Öffnung.
So entstand erst die Buchhandlung, vor 45 Jahren, dann das Café. Und dann kam noch ein Raum nebenan hinzu, für Lesungen, Konzerte und Ausstellungen. Seitdem ist das Taranta Babu ein alternatives Kulturhaus. Ein Ort jenseits von finanziellen Interessen. Wer ein Buch lesen will, liest es. Und wer wenig Geld hat, darf sich sogar sein eigenes Essen mitbringen. Hasan wurde und blieb die Seele des Taranta Babu, und immer wieder kam er auf die Idee des geschwisterlichen Waldes zurück: „Wir sind auf der Suche nach diesem Wald. Den finden wir, da bin ich überzeugt. Das ist mein Traum.“
Über all die Jahrzehnte hinweg war und ist das Taranta Babu ein Zentrum für junge Menschen, aber auch für alte, für Studierende und Anwohner, für Menschen, die diskutieren oder einfach nur nicht allein sein wollen. „Wir haben mittlerweile 16 Gruppen, die sich regelmäßig hier treffen“, erzählte Hasan zwei Monate vor seinem Tod. „Unter denen sind auch zwei Schreibwerkstätten.“ Im Taranta Babu ensteht Literatur. Autorinnen und Autoren, die keinen Verlag finden, lesen hier. Man hört einander zu und diskutiert.
Aber natürlich ist die Welt rund um das Taranta Babu eine andere geworden. Seine Gründungszeit war auch die Phase, in der viele alternative Verlage und Kulturzentren entstanden. „Unsere Lesekultur hat sich extrem verändert“, sagte Hasan. „Guck mal, in den letzten 15 Jahren haben allein 178 Alternativverleger von damals Abschied genommen. Über 100 alternative oder stadtteilorientierte Buchhandlungen gibt es nicht mehr.“
Das Taranta Babu hielt und hält dagegen. Eine gute Zusammenarbeit gibt es mit Kiepenheuer & Witsch. Einer der bekanntesten Autoren des Verlags, Aladin El-Mafaalani, ist Professor für Migrations- und Bildungssoziologie in Dortmund. Er kommt oft vorbei, diskutiert und gibt Autogramme. An diesem Ort der Freundlichkeit, der Poesie und der Philosophie, des gemeinsamen Lesens, Denkens und Feierns. Und immer blieb das Taranta Babu auch ein Ort des linken Widerstands. „Dieser Widerstand“, betonte Hasan immer, „muss total gewaltfrei sein. Das sind die Prinzipien, die ich gelernt habe. Selbst mit Worten können wir ziemlich schnell eine Seele töten. Das dürfen wir nicht.“
Im Taranta Babu gab es einige Veranstaltungen der Solidarität mit Israel nach den Terrorangriffen des 7. Oktober. Was ein großer Teil der sogenannten linken Szene nicht hingekriegt hat. Hasan ließ nie ab von seiner Idee eines gewaltfreien Widerstands. Und glaubte daran, dass Menschen wie ein geschwisterlicher Wald zusammenleben können, ohne sich von Ideologien oder Religionen aufhetzen zu lassen. Nun müssen andere diesen Glauben weitertragen. Es ist ein unfassbarer Verlust, dass dieser humorvolle und unnachgiebige, herzlich streitbare Hasan Şahin nicht mehr da ist. Ein Mann, der persische Philosophen aus vergangenen Jahrhunderten aus dem Kopf zitieren konnte:
„Ich brauche euch. Ich brauche dich, lieber Mensch. Ich brauche deine konstruktive Kritik. Du bist mein Gott.“