Literaturgebiet entdecken

Dieser Buchladen fliegt

Sebastian Schmitz ist Flugbegleiter und gründete mitten in der Pandemie die "Insel der Bücher" in Essen-Holsterhausen. Eine Geschichte über die integrative Kraft eines Stadtteilbuchladens von Ralf Koss.

Die Insel der Bücher in Holsterhausen. Foto: privat

Ausgerechnet mitten in der Pandemie, während Geschäfte aller Warenangebote ums Überleben kämpften, eröffnete Sebastian Schmitz vor etwas mehr als einem Jahr in Essen-Holsterhausen seine „Insel der Bücher“. Schon die Neueröffnung in dem mehrere Monate leer stehenden Ladenlokal der Vorgänger-Buchhandlung wäre wegen des Muts eine Nachricht wert gewesen. Weil Sebastian Schmitz bis dahin als Flugbegleiter sein Geld verdiente, ergab sich eine ungewöhnliche Geschichte, die die lokalen Medien begierig aufgriffen.

Nach diesem ersten Jahr zeigt sich nun: die Hoffnungen des Quereinsteigers haben nicht getrogen. Die „Insel der Bücher“ wurde in kurzer Zeit zu einem Ort der Begegnung, des Austauschs und des kulturellen Lebens in Holsterhausen. Sebastian Schmitz wurde im Stadtteil quasi zur öffentlichen Person. Wenn er über die Haupteinkaufsstraße, die Gemarkenstraße, läuft, grüßt er nach links und rechts oder bleibt sogar  für einen kurzen Plausch stehen. Auch im Laden selbst gehört der zum üblichen Alltag.

Das grundlegende Rüstzeug eines Buchhändlers erarbeite er sich selbst. Vor der Eröffnung erklärten ihm hilfsbereite Essener Buchhändler das Wesentliche zu Bestellung und Sortiment. Sie hatten keine Angst vor der möglichen Konkurrenz. Sebastian Schmitz dagegen gab der kollegiale Austausch zusätzlichen Mut. Kollegen bestätigten seinen Eindruck: die Menschen wendeten sich wieder den Geschäften in der Nachbarschaft zu. Sie erinnern sich plötzlich daran, dass ein Stadtteil lebenswert ist, wenn persönliche Begegnungen den Einkauf bereichern.

Den Quereinsteiger Sebastian Schmitz beneidete sogar ein Buchhändlerkollege. Der habe damals gesagt: „Sei froh, dass du keine Buchhändlerausbildung hast. Sonst hättest du womöglich so einen Tunnelblick und übersiehst eine deiner Möglichkeiten.“ Wenn ein Roman in den großen Feuilletons besprochen wird, hält ihn Sebastian Schmitz nicht unbedingt sofort vorrätig. Im „learning by doing“ entwickelte er ein Gespür für das passende Sortiment. In Holsterhausen bevorzugen Leser*innen entspannende Unterhaltung und realistisches Erzählen gegenüber der Verrätselung der Wirklichkeit mit hohem literarischen Anspruch.

Werner Hansch und der Journalist Hermann Beckfeld bei einer Lesung in der "Insel der Bücher". Bild: privat

Eine offen gestaltete Inneneinrichtung verschafft der Buchhandlung eine wohnlichen Atmosphäre. Nicht jeder Meter Wand ist mit Regalen verstellt. Sebastian Schmitz hat Raum für die bildende Kunst gelassen. Wie Pop-Art wirkt dabei eine aus Stroh gefertigte, große Giraffe. Sie stammt aus Madagaskar. Zur Menagerie versammeln sich die Tierfiguren, die Sebastian Schmitz aus aller Welt von seinen Flügen mitbrachte. Eine Holzeule aus Mexiko steht im Fenster und wacht über die Geschicke des Ladens. Einem Plüschgorilla mit Lesebrille steht ein Buch auf dem Schoß. Auf diese Weise stellt Sebastian Schmitz einzelne Titel wöchentlich wechselnd besonders heraus. Der Holzschrank daneben dient nun als Buchregal, und trotz des beschränkten Raums steht ein Sessel samt Truhe zum Ablegen bereit. Dort können Kunden auch einmal länger in einem Buch blättern. Leise Musik ist im Hintergrund zu hören.

Als Frank Goosen jüngst zu einer Lesung kam, machte sich Sebastian Schmitz damit zwar selbst ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk zum einjährigen Bestehen, der Abend reihte sich aber auch in jene Veranstaltungen ein, mit denen der Buchhändler die Live-Kultur im Stadtteil bereichert. „Der kleine Raum erlaubt kein großes Publikum, aber die Nähe schafft intensive Gespräche zwischen Autor*innen und Leser*innen.“ Der Sportreporter Werner Hansch etwa sei überwältigt gewesen von Zuspruch und Ermutigung, als er aus seinem Buch über die eigene Spielsucht gelesen habe. Lebensgeschichtliches war auch von Erwin Kostedde zu hören, dem ersten Schwarzen Fußballnationalspieler Deutschlands. Zusammen mit dem Autor seiner Biografie, Alexander Heflik, war er nach Holsterhausen gekommen. Die Radiomoderatorin Gisela Steinhauer las aus ihrem Buch „Der frühe Vogel fängt den Wurm“. Der Kontakt kam über eine Kundin zustande. Für Sebastian Schmitz ein weiterer Hinweis auf die enge Verbindung, die zu seinen Kunden entstanden sei. Dass in der „Insel der Bücher“ auch lokale Autor*innen zu sehen sind, versteht sich von selbst.

Seinen bisherigen Beruf hat Sebastian Schmitz nicht völlig aufgegeben. Er fliegt immer noch. Keinen seiner beiden Berufe möchte er missen. Seine Dienste kann er so legen, dass möglichst wenige Ladenöffnungszeiten betroffen sind. Im Zweifel vertritt ihn eine Studentin iranischer Herkunft, auch sie eine Quereinsteigerin. Die „Insel der Bücher“ zeigt: Einkaufen kann mehr bedeuten, als einfach (und einsam) online Waren zu bestellen. Nicht nur für die Käufer*innen selbst. Auch für ein ganzes Viertel.

Am 23. Oktober wird Schriftstellerin, Journalistin und Illustratorin Arezu Weitholz auf ihrer Lesereise durch das literaturgebiet.ruhr auch in der Insel der Bücher Halt machen und aus ihrem Buch „Zu Mensch“ lesen. Arezu Weitholz hat den Entstehungsprozess von Herbert Grönemeyers Album „Mensch“ als Textdramaturgin aus nächster Nähe verfolgt. Das wunderbar illustrierte Buch erzählt davon.

Stationen der Lesereise:

  • 20.10.2022: Buch ImBusch, Bochum (19:00 Uhr, Eintritt 10 Euro)
  • 21.10.2022: Gerd-Bucerius-Saal im Heinrich-von-Kleist-Forum Hamm, veranstaltet von Stadtbüchereien Hamm (19:30 Uhr, Eintritt 6 Euro, ermäßigt 4, Tickets hier zu kaufen)
  • 23.10.2022: Buchhandlung Insel der Bücher, Essen (19:30 Uhr, Eintritt 10 Euro, vorbestellbar unter hallo@inselderbuecher.de)
  • 25.10.2022: Buchhandlung Kapitel Zwei, Recklinghausen (19:00, Eintritt 15 Euro, vorbestellbar unter info@buchhandlung-kapitelzwei.de)
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