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Herzlichen Glückwunsch zum 75. Geburtstag, deutsches Grundgesetz!

Gratulation und Rückschau von Schriftsteller Gerd Puls, ebenfalls 75

Fünfundsiebzig. Bin ich auch. Ein knappes halbes Jahr älter sogar als das Grundgesetz. Ein guter Jahrgang, 1949, etwas Stolz sei erlaubt. Und dankbar bin ich, dass es so gekommen ist. Geburtstag also, Glückwunsch uns beiden. Bisschen Spaß sollte erlaubt sein, zählt doch jeder Mensch, jeder einzelne von uns. Der Mensch immer zuerst.

Fünfundsiebzig gute Jahre. Vor allem auch Dank Grundgesetz. Für mich waren es fünfundsiebzig friedliche Jahre in dem kleinen Haus meines Opas in dem früheren Zechendorf. Opa war Maurer, zugewandert, damals vor über hundert Jahren, kurz nach dem ersten Weltkrieg. Arbeitsimmigrant, wenn du so willst. Wenig später das kleine Häuschen gebaut mit eigenen Händen und der Hilfe von Freunden und Kollegen.

Fünfundsiebzig Jahre, eine kurze Zeit. Friedlich, was heißt das schon? In unserem Gärtchen vielleicht, mag sein. Anderswo, egal, wohin du schaust, sah es damals, sieht es heute ganz anders aus. Die Erde brennt, verbrennt auch ohne Militär und Krieg nicht erst seit gestern.

Teile ich die fünfundsiebzig Jährchen grob in drei Teile, dann waren die ersten fünfundzwanzig landauf landab in der so jungen Republik, natürlich auch in meinem Dörfchen, eher grau, trist, unspektakulär. Noch geprägt von dem, was vorher war. Für unsereins, für so kleine Leute wie Opa, meine Eltern und ihre Nachbarn, waren diese Jahre aber auch geprägt von so etwas wie Dankbarkeit. Endlich vorbei, befreit, dachten die meisten. Gut, dass es doch noch so gekommen ist. Obwohl, in jeder Familie gibt es Tote, Verwundete, Vermisste. Kommende Jahre decken dünne, gnädige Mäntelchen des Vergessens darüber.

Zufriedenheit, Bescheidenheit, kleines Glück kleiner Leute in meinem Dorf. Wenn nur die Weltlage nicht wäre, wie sie ist. Etwas sicherer, ein wenig stabiler nur, das wäre schön. Aber sieh, all die Kriege. In Fernost, Korea, Indochina. Ost gegen West, West gegen Ost, kaum dass der Weltkrieg vorüber ist. Bomben zünden, Atomversuche überall, ob Pazifik, Nevada, Sahara. Unruhen überall, Indien, Lateinamerika. In Afrika bröckeln westliche Kolonien. In Algerien brauchen sie welche für die Fremdenlegion. Gestrandete, alte Wehrmachtssoldaten, die ihr blutiges Handwerk verstehen. Kriege weltweit seitdem. Befreiungskriege, Bruderkriege, Vernichtungskriege.

Frieden, welch schönes Wort. In meinem Dorf geht es friedlich zu, wird Kohle gefördert, Korn und Getreide geerntet, wird fleißig malocht, bescheiden gelebt. Dorffest und erste Schützenfeste wieder, deine Mutter schiebt dich im Kinderwagen neben dem Umzug her. Weitausgreifende Schritte, sportlich ist die junge Frau, beim BDM war sie immer eine der Besten und ist immer noch ein wenig stolz darauf. Verlorene, verblendete Generation, die nichts anderes gelernt, nichts anderes erfahren hat. Aber turnen, tanzen, marschieren kann sie, das war ihr ganzes junges Leben. In den Jahren vor dem Krieg, in ihrer Jugend vor Gründung der neuen Republik.

Der Dorfpolizist in abgetragener Uniform, den Tschacko aus den Dreißigern, Vierzigern auf dem kurzgeschorenen Schädel. Steigen sie man hübsch ab von ihrem Rad, junge Frau, und schieben sie den kleinen Bengel mal schön auf ihrem Gepäckträger da. Jawohl, Herr Wachtmeister.

Warum du dich daran erinnern kannst, kaum vier warst du damals. Vielleicht kindliche Angst, dass der Mann in Uniform deiner Mutter…

Ein erster Urlaub steht an für das junge Ehepaar. Vater hat ziemlich zugenommen in letzter Zeit, das gute Essen, endlich wieder. Wir brauchen Erholung, einmal raus aus dem Trott. Die kleinen Geschwister bleiben bei den Großeltern. Berchtesgaden, Watzmann, Königssee. Ein neues Sommerkleid kaufen. Steht mir, bin doch noch jung. Wanderstöcke dazu, gleich kleine Abzeichen draufnageln lassen. Seht mal, da sind wir überall gewesen. Schöne Ecken da unten, Ausflugsziele, Berge, klare Seen, Salzbergwerk, Hitlers Berghof aber auch.

Opa stirbt früh, Oma bald darauf. Eine Generation, noch aus dem vorigen Jahrhundert, die zwei Weltkriege erlebt, durchlitten hat, wenige Friedensjahre dazwischen, das war ihr Leben.

Und du gehst immer noch zur Schule, hörst zu viel Musik, während die meisten gleichaltrigen Dorfkinder nach der Konfirmation arbeiten müssen, eine Lehre machen. Kraftfahrzeugmechaniker,  Frisör, Werkzeugmacher, Schlosser, Verkäuferin, was es so gibt.

Groß raus aus deinem Dorf kommst du noch immer nicht, gehst weiter zur Schule in die nahe Kreisstadt. Nicht der Rede wert, was lernst du denn da?

Vater stirbt viel zu früh, noch keine Fünfzig. Zwanzig Jahre hat die junge Bundesrepublik ihn noch begleitet, dann ist es zu Ende für ihn. Dabei hat er den Hitlerkrieg als junger Soldat doch halbwegs heil überlebt. Oder war da mehr als nur sein schwaches Herz?

In den Siebzigern dann irgendwann, irgendwie doch halbwegs erwachsen werden, wie auch immer. Das musst du relativieren, etwas erwachsener geworden bist du vielleicht. Das bleibt nicht aus, wenn Kindertage endgültig passé sind, auf einen Schlag. Volljährig mit einundzwanzig bist du damals, zum Bund durftest, solltest du schon etwas früher. Da im Kasernenflur hängen überall die Schautafeln, hängen Statistiken, anschauliche Bilder. Zahlenwerk auch. Grob, schlicht, dürftig gepinselt. Seht her, ihr Rekruten, wie bedrohlich das alles ist. Hier die Streitkräfte des Ostblocks, soundsoviele Soldaten, Panzer, Haubitzen, Raketen, Bomben, Minen überall, Kampfflugzeuge und Kreuzer. Alles fein geordnet nach Waffengattungen. Luftwaffe, Heer, Marine. Soundsoviel von dem und dem drüben im Ostblock. Dem gegenüber das Waffenarsenal des Westens. Gleichgewicht des Schreckens, eine Welt in Waffen Und immer mehr, wenn das mal gut geht? Unsere amerikanischen Verbündeten, wenn wir die nicht hätten. Morgen eine Geländeübung, da zieht man euch die Hammelbeine lang. Vorher zum Frisör. Uniformhemden sind über der Hose zu tragen. Das neue Bundesheer.

Was wollen die von dir, kannst du mir das sagen? Und bald wird dir klar, dass die einzige, wirklich gute, wirklich hervorzuhebende außenpolitische Leistung der Amerikaner die Befreiung vom Faschismus war. Vormarsch über den Rhein, weiße Betttücher in die Fenster gehängt. Wir ergeben uns, friedliche Bürger. Endlich Schluss mit der Barbarei, endlich Frieden.

Frieden und Restauration, Verdrängen auch, qualvolles Verharren im Ewiggestrigen und zügig flotter Wiederaufbau. Als wäre nichts gewesen. Auch hier im Pott, gleich hinter meinem Gärtchen, tut sich eine Menge. Wachsender Wohlstand, Entwicklung, prosperierende Wirtschaft, satte Zufriedenheit, was gestern war vergessen. Das Dorf wächst, breitet sich aus. Wohnraum für Flüchtlinge, ganze Siedlungskomplexe, wo es gestern noch Felder, freie Flächen gab. Es geht voran, sei guten Mutes, mach dir keine Gedanken, Bursche. Für einen jungen Kerl wie dich gibt es doch Zukunft nur.

Alte Nazis in neuen Positionen in der neuen Republik. In Stadtverwaltung, Schule, Landes- und Kommunalpolitik, im Amts- und Landgericht. Der braune Ministerpräsident da in dem Bundesland, hat der Präsident etwa mitgebaut auch an KZs? Ziemlich trübe Aussichten, wenn sich da nicht langsam was ändert. Blick über den Zaun, du willst doch ernst genommen werden, erwachsen sein? Die anderen Länder da, Aufstände, Bürgerkriege, internationale Söldnertruppen. Und dann liest du, wie es wirklich war, mit den Cowboys und Indianern. Fromme Siedler und First People, die Überlebenden auf Hungermärschen in die Reservate. Die befreiten schwarzen Sklaven, Rassenwahn und Lynchjustiz, seltsame Früchte pendeln da im südlichen Wind, der durch die Pappeln streicht.

Und im Ostblock erst, Unterdrückung, Unfreiheit, wohin du schaust, Hunger auch, ganze Länder, ganze Kontinente. Du hast es gut hier, dafür sorgt das Grundgesetz. Freiheit und Gerechtigkeit, ein sicheres Land, wenn die Weltlage nicht… Da draußen ändert sich nicht viel, vieles wird schlimmer, ufert aus, greift um sich. Davon kriegst auch du hinter der Hecke in deinem Gärtchen plötzlich mehr mit. Bist besser informiert, weil es dich interessiert, berührt, nicht loslässt. Napalm, die Amerikaner da in Vietnam, der persische Schah auf Staatsbesuch, Schuss aus der Polizeipistole, Benno Ohnesorg ist tot. Studenten gehen auf die Straße, errichten Barrikaden, prangern an, reißen das Maul auf. Der da, das hohe Tier, hat auch Dreck am Stecken, wenn du mich fragst. Junge Leute sind plötzlich laut, weisen hin, rütteln auf. Unter den Talaren… kernige Sprüche, die notwendig sind. Eine Republik im Aufbruch, endlich ändert sich etwas.

Aber Nazis immer noch, alte, neue. Die Republik ist stabil, bei den Parteien weiß man, was man wählt, was sich beim nächsten Mal womöglich ändert. Die Republik ist aus den engen, längst zu kleinen Kinderschuhen endlich raus. Da formieren sich Terroristen, verüben Anschläge, morden, bedrohen die Demokratie. Unser starkes Grundgesetz. Der Staat ist nicht erpressbar, wir reagieren, kämpfen, wehren uns. Unruhige Zeiten, der Bildschirm liefert Bilder von Bombenattentaten und Entführungen. Steckbriefe in jeder Poststelle. Misstrauen wächst. Radikalenerlass. Ein friedliches Land? Notstandsgesetze. Wie geht es weiter, wo geht es hin?

Schon spät in der Nacht kommst du von einem Konzert. Absperrung, Polizeikontrolle an der Autobahnauffahrt, an der Abfahrt noch einmal. Die Beamten tragen Maschinenpistolen. Ob es wieder einen Überfall gab?  Deine Hände legst du brav aufs Autodach. Beine breiter, Kopf tiefer runter! Waffen im Kofferraum, eine Pistole im Handschuhfach womöglich? Du hast lange Haare, Musikfreak, bist in gefährlichem Alter. Sympathisanten vor allem bei Intellektuellen vermutet. Man verunglimpft, schert über einen Kamm. Hilflose Politiker. Staat in Gefahr. Schriftsteller, Pinscher, Schmeißfliegen, mahnen, ergreifen Partei, führen das große Wort, solche sind allemal gefährlich. Das zieht sich durch die Jahre, zweite, dritte Generation, Aufklärungsrate eher gering.

Und Rüstung, immer mehr. Allerbeste Waffen, made in Germany. Exportiert in aller Herren Länder. U-Boote, was du willst. Da geht immer noch was, geht es immer weiter, ist kein Ende in Sicht. Wir werden bedroht, fühlen uns bedroht, dagegen muss etwas zu machen sein. Unser Ansehen überall in der Welt. Endlich die Verlässlichen, Guten. Entwicklungshilfe, Versöhnung, Verständnis. Miteinander, nebeneinander friedlich leben und leben lassen, wenn es immer so einfach wäre. Wir sind stark aber friedlich, wir halten uns raus, unterstützen, helfen, wo immer es geht. Wir haben einen guten Ruf, den gilt es zu verteidigen.

Da haben wir uns die Wiedervereinigung redlich verdient. Endlich keine zwei Staaten mehr auf deutschem Boden, das Grundgesetz gilt überall, steht über allem, so soll es sein. Blühende Länder, braune Horden auch. Gestrige, Engstirnige, Verbohrte, sei ehrlich, hat es doch immer gegeben, wird es weiterhin geben, immer und überall. Erst recht, wenn du dein ganzes Geld in Rüstung pumpst. Tierisch teure Brigaden nach Lettland, wer soll es bezahlen? Unsere gebeutelten Kinder und Kindeskinder, denen wir ohnehin werweißwas hinterlassen. Schulden, Löcher, überall Löcher, da bleibt manches auf der Strecke, schlechte Schulen können längst nicht alles leisten, auffangen, wiedergutmachen, gerade rücken. Schon gar nicht, wenn es für viele keine vernünftige Perspektive gibt. Wenn du systematisch weiter verdummt werden sollst. Das Grundgesetz kannst du dafür nicht verantwortlich machen. Das Grundgesetz trägt an alldem kein Fitzelchen Schuld.

Gesättigt, verwöhnt, verschlafen, gleichgültig waren wir, wenn du mich fragst. Und bleiben weiter bequem, verstört, verblendet, ferngelenkt. Du da in deinem kleinen Gärtchen, ihr da hinter euren Plastikhecken. Augen zu und durch. Noch gibt es aufmerksame, besorgte, wache Leute in deinem Dorf, aber leider auch eine Reihe anderer in diesem Jubiläumsjahr. Gut, dass wir dich haben, Grundgesetz. Herzlichen Glückwunsch also zum Fünfundsiebzigsten.

Vom Erdklima, vom Hunger, von den ganzen Krankheiten und anderen Krisen, den Kriegen dieses Jubiläumsjahres haben wir noch nicht gesprochen. Dennoch, liebes Grundgesetz, mögen sich die nächsten fünfundsiebzig Jahre positiv entwickeln. Ich wünsche es uns so sehr. Für deine und für meine Enkel. Dass sie so harmlos, zufrieden friedlich durch ihre fünfundsiebzig Lebensjährchen kommen mögen wie ihr fünfundsiebzig Jahre alter Opa. Wer weiß, was dann ist? Fünfundsiebzig Jahre, grob, mit Abstrichen oder Zuschlägen, noch einmal die kurze Spanne eines Menschenlebens, nicht mehr, nicht weniger. Dann feiert ihr wieder. Wäre schön, wenn es dann klappt. Ich wünsch es euch von ganzem Herzen. Herzlichen Glückwunsch, Grundgesetz.

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