Schreibprojekt

Marius Schaefers bei STROBO:Stimmen

Marius Schaefers „Normalitäten“

Normalität – was ist das eigentlich?
Der Gedanke schießt mir durch den Kopf,
als ich morgens in meiner Wohnung am Fenster stehe
und meinen Schwarztee schlürfe.
Regen prasselt gegen die Scheibe, Milch plätschert in die Müslischale.
Ich überlege, was heute ansteht,
welche Punkte ich auf meiner To-do-Liste habe.
E-Mails, Texte prüfen und schreiben, Social Media.
Genau das wollte ich doch immer, unabhängig sein.
Ja, ja.

Unruhe breitet sich in mir aus.
Bin ich nervös, weil ich insgeheim fürchte, dem nicht Herr zu werden?
Komm, mach das Beste draus.
Du hast es im Griff, erinnere ich mich.
Das stimmt mich zuversichtlich.
Seit der letzten Sitzung bei meiner Therapeutin bin ich stabiler, als ich es je war.
Und so viel freier und kraftvoller.

Ich beginne damit, mich anzukleiden,
schlüpfe in Klamotten, die sitzen, wie sie sollen.
Der Schnitt, mein Körper und mein Selbstbild stimmen inzwischen überein.
Ich habe mich gefunden, bin nicht mehr verschollen.
Man wird mich richtig wahrnehmen und erlaubt mir,
ich zu sein.

Niemand stellt das mehr infrage.
Nie wieder: Oh, ist das auch wirklich dein Name?
Und für den Fall der Fälle gibt’s ja noch den Wisch,
für den ich nicht nur einer Prüfung unterzogen wurde wie ein Betrüger,
sondern 1.500 Euro gezahlt habe.
Der bestätigt: antragstellende Person gehört dem männlichen Geschlecht an.
Also, solltest du es wirklich wissen wollen, werde ich erwidern:
Ziehst du etwa einen Gerichtsbeschluss in Zweifel?
Und dir danach den Ausgang zeigen.

Im Grunde denke ich da heute nicht mehr viel drüber nach.
Dass ich das nicht muss, ist ein Privileg, noch frisch und ungewohnt.
Der Alltag hat Einzug gehalten,
so unwirklich es mir hin und wieder erscheint.
Und das, was meinen Weg gepflastert hat,
liegt in der Schublade, der Vergangenheit.
Oder war es der Schrank?
Nein, da bin ich raus.

Nur die Einsamkeit ist manchmal schwer zu ertragen.
Ist das der tatsächliche Preis, den wir bereit sein müssen, zu zahlen?
Bin nie gut darin gewesen, Anschluss zu finden,
doch du – du empfängst mich mit offenen Armen.
Meinst du das ernst?
Herzflattern hinter meinen Rippen.
Wie fragil, diese Hoffnung.
Du verschränkst deine Finger mit meinen und behauptest,
dass wir das gemeinsam schon schaffen.

Weiß oder Schwarz?
Cis oder trans?
Queer oder hetero?
Hat das wirklich Relevanz?
Die Antwort ist in diesem Fall sehr klar.
Leider: ja.

In einer Utopie könnten wir einfach sein,
aber sie sind da.
Die Unterschiede, ob wir wollen oder nicht.
Und je nachdem, sehen dir Menschen auf andere Weise ins Gesicht.
Sie fallen ins Gewicht.
Das hier ist meine Sicht.
Ich existiere, ob du es glaubst oder nicht.

Normalität – was ist das eigentlich?
Der Gedanke schießt mir durch den Kopf,
als ich abends in diesem Hotelzimmer im Bett liege
und in die Dunkelheit starre.
Schatten tanzen, die Matratze quietscht.
Ich verharre.
Wenige Stunden zuvor: Publikum, eine Bühne, und darauf ich,
der aus einem seiner Bücher liest.

Noch immer spüre ich ein rührseliges Ziehen in der Brust.
Glück und keinen Frust.
Zu aufgeregt, um zu schlafen, streiche ich darüber.
Sie ist flach, was sie nicht immer war.
Dafür musste ich erst operiert werden.
Jetzt passt das.
Ich bin unendlich dankbar.

Ich bin Romantiker und ein Träumer, wie ich auf eine Frage geantwortet habe.
Deswegen schreibe ich Liebesgeschichten.
Ich bekam Lächeln und Lacher, das war sympathisch.
Aber heißt das, dass ich daran glaube?
Eher nicht.
Herzschmerz is a thing und bricht sich jetzt Bahn,
nachdem ich kurzzeitig aufgehört habe, zu atmen.

Es kommt ganz darauf an, wer du bist.
Doch wo ich heute stehe, hielt ich vor ein paar Jahren für unmöglich.
Ängste und Zweifel, keine Worte finden.
Und jetzt, echt wahr?
Leute hören mir zu und sagen mir, dass ich sie empowere.
Sind die Dinge also doch immer ein bisschen im Fluss?
Und die Sache ist die, dass du „einfach“ nur durchhalten musst?

Für mich ist „anders“ das Normal.
Womit ich meine, dass ich raussteche,
wenn wir mal so die Gesellschaft betrachten.
Heute verstehe ich endlich, wieso.
Und dann fühle ich mich da am Rand wiederum ganz wohl.
Dazugehören wollen habe ich hinter mir gelassen.
Zumindest meistens.
Während ich zwischen den Grüppchen um mich herum hin und her schaue,
mir gleichzeitig unsichtbar und wie im Scheinwerferlicht vorkomme.

Weiß oder Schwarz?
Cis oder trans?
Queer oder hetero?
Hat das wirklich Relevanz?
Die Antwort ist in diesem Fall sehr klar.
Leider: ja.

In einer Utopie könnten wir einfach sein,
aber sie sind da.
Die Unterschiede, ob wir wollen oder nicht.
Und je nachdem, sehen dir Menschen auf andere Weise ins Gesicht.
Sie fallen ins Gewicht.
Das hier ist meine Sicht.

Ich drehe mich auf die Seite und stelle mir vor,
wie ich deine Hand halte.
Doch du – du bist nicht da.
Kämpfst du für uns?, flüstere ich, möchte ich erfahren.
Bist du ein Safe Space?
Was ich damit meine,
darfst du selbst erraten.

Marius Schaefers ist Autor, Blogger und Sensitivity Reader. Er veröffentlichte seinen Debütroman mit 18 Jahren im Selbstverlag, gefolgt von weiteren Selfpublishing-Erfolgen und Verlagsveröffentlichungen. In seinen romantischen und fantastischen Geschichten schreibt er über die Suche nach dem Glück und den Mut dazu, man selbst zu sein. Auf Instagram teilt Marius als @derunbekannteheld regelmäßig spannende und bunte Lesetipps. Außerdem spricht er offen über seine Transidentität und Queerness und setzt sich für mehr Diversität in der Unterhaltungsliteratur ein.

 

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„Normalitäten“ von Marius Schaefers ist im Rahmen des Projekts STROBO:Stimmen erschienen, eine Kooperation zwischen literaturgebiet.ruhr und STROBO. Zwölf junge Autor*innen aus dem Ruhrgebiet wurden nach ihrer Sicht auf die Welt gefragt. Jeden Monat veröffentlichen wir eine der literarischen Antworten. Hier erfahrt ihr mehr über das Projekt.

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