Schreibprojekt

Jule Weber bei STROBO:Stimmen

Jule Weber „AUS MEINER SICHT“

AUS MEINER SICHT

die ganze welt aus augenhöhe betrachtet
heißt in meinem fall: alles, was etwa ein meter fünfzig über dem boden ist
recherche für diesen text hieß in meinem fall: mit dem ausgeklappten zollstock vor dem werkzeugregal stehen, auf wollsocken und mit ungekämmten haaren.

wenn ich zu etwas aufsehen muss, lege ich den kopf in den nacken
dann fühle ich mich oftmals wie ein kind, dem keiner zuhört,
wenn ich zu etwas herunter sehe, lenkt mich der blick auf meine füße ab
und die stetige angst dabei überheblich zu wirken oder nicht zuzuhören.

wenn ich auf einer bühne spreche, dann in die dunkelheit vor meinem geraden blick
über die köpfe hinweg und alle meine inhalte fallen ein bisschen wie regen,
ein sanfter und nicht allzu kalter in einem lange schon erwarteten frühling.

die ganze welt auf augenhöhe betrachtet
heißt stetiges arbeiten mit perspektivverschiebungen
die dinge kleiner oder größer machen, demütig in die knie gehen
oder auch mit beiden händen weit über den kopf in die unmöglichkeiten greifen.
wenn man ein fernglas umdreht und hindurch schaut, wirkt alles so weit entfernt wie der mond.
recherche für diesen text hieß in meinem fall: mit dem umgedrehten fernglas vor den augen auf den laptop starren und hoffen, dass das kleinstgedruckte sich in einen größeren zusammenhang verwandelt.

die ganze welt außer augenhöhe betrachtet
heißt ich fokussiere mich auf die utopien, in meinem fall: alles, was mir unerreichbar scheint
recherche für diesen text hieß in meinem fall: mir selbst erlauben größer zu träumen,
zumindest versuchen mir alles vorzustellen, wovon ich noch nie gehört habe.
im allgemeinen kann sich der mensch nichts unbekanntes ausdenken, wann immer jemand versucht sich außerirdische vorzustellen, wird zwangsläufig auf beschreibungen zurückgegriffen, bei denen es um augen oder ohren oder sprache geht, so wie licht nur beschrieben werden kann, wenn dunkelheit zur sprache kommt. aus meiner sicht scheint jedes leben fremd, das nicht mein eigenes ist. ich frage mich, wie es aus deiner perspektive aussieht, auf deine hände zu schauen und ob sie dir auch manchmal so fremd vorkommen, wie mir meine eigenen.

die ganze welt der augenhöhe betrachtet
heißt die möglichkeit einzelne photone wahrnehmen zu können
sofern man die augen nicht verschließt vor den allerkleinsten dingen
recherche für diesen text hieß in meinem fall: ohne die brille im gesicht versuchen das straßenschild gegenüber vom haus zu lesen und festzustellen, dass mein horizont ohne hilfe schon etwa eine armlänge von mir entfernt erreicht ist.
heißt auch: ich strecke die hand aus, um nach verbündeten zu suchen.
möglicherweise nach jemandem, um in mehr als eine richtung schauen zu können
und dann frage ich dich:

was können wir von hier aus sehen?

Jule Weber lebt und arbeitet in Bochum und gehört zu den führenden Stimmen der deutschsprachigen Spoken-Word-Szene. Seit 2009 tourt sie mit ihren Texten im gesamten deutschsprachigen Raum und gewann 2012 sowohl die hessischen, als auch die deutschsprachigen Poetry Slam Meisterschaften in der Kategorie U20. 2023 wurde ihr in Hamburg der „Kampf der Künste Award“ verliehen.

Sie trinkt zu viel schwarzen Kaffee, tritt am liebsten zu Jazzmusik auf, sie moderiert Veranstaltungen und leitet Bühnen- und Schreibworkshops für Menschen allen Alters. Sie ist Teil des Kollektivs „Verschwende deine Lyrik“ und der Lesebühne „Aufruhrgebiet – die revolutionäre Vorlesedemo“.

Zudem ist sie gemeinsam mit Yannick Steinkellner als Spoken Word Team „Lingitz&Puchert“ zu sehen.

 

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„AUS MEINER SICHT“ von Jule Weber ist im Rahmen des Projekts STROBO:Stimmen erschienen, eine Kooperation zwischen literaturgebiet.ruhr und STROBO. Zwölf junge Autor*innen aus dem Ruhrgebiet wurden nach ihrer Sicht auf die Welt gefragt. Jeden Monat veröffentlichen wir eine der literarischen Antworten. Hier erfahrt ihr mehr über das Projekt.

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