Literaturgebiet entdecken

Unterwegs zu den Bücherschränken im literaturgebiet.ruhr

Ralf Koss treibt Ruhrgebietsstudien anhand der öffentlichen Bücherschränke

Bücherschrank in Essen, Eiserne Hand. Foto: Ralf Koss

Seit dem Sommer letzten Jahres fährt der Autor, Literaturveranstalter und Blogger Ralf Koss für eines seiner literarischen Projekte zu den Bücherschränken des Ruhrgebiets. Er spricht mit den Menschen, die dort Bücher aussuchen, Bücher hineinstellen oder sich nur umsehen. Seine Tagestouren betrachtet er als Zeitreisen und Milieustudien. Denn mit seinen Momentaufnahmen vom Bücherschrankangebot lässt sich auch eine deutsche Kultur- und Literaturgeschichte erzählen.

Viele Menschen im Ruhrgebiet empfinden Bücherschränke als Bereicherung für ihre Stadt. Regelmäßig stöbern sie und folgen ihren besonderen Interessen. Reizvoll wirkt dabei weniger die kostengünstige Form der Buchbeschaffung als die Suche nach dem Ungewöhnlichen und Überraschenden. Mitten im Winter lernte Ralf Koss ein Ehepaar kennen, das vor allem nach Reiseführern und Kochbüchern Ausschau hielt. Nachdem sie jahrelang selbst viel gereist waren, sind sie nun mit Bücherschrankfunden vor allem in Gedanken in der Ferne unterwegs. Sie waren es auch, die zu Hause feststellten: ein mitgenommenes Kochbuch hatte der ehemalige Staatspräsident von Frankreich, Valéry Giscard d‘ Estaing, signiert. Deutlich seltener wurde ein junger Mann fündig, der in den Bücherschränken nach Gedichtbänden suchte. Moderne Lyrik hat auch Ralf Koss in keinem der von ihm besuchten Bücherschränke gesehen.

Wieviel in einem Viertel gelesen wird, lässt sich an der Bestseller-Auswahl im Bücherschrank feststellen. Überwiegen Johannes Mario Simmel, Heinz G. Konsalik und Marie-Louise Fischer, haben Nachlässe einen neuen Platz gefunden. Neue Leser sind in der Nähe vermutlich nur in geringer Zahl nachgewachsen. Die Unterhaltungsliteratur der Jahrtausendwende von Gabi Hauptmann, Hera Lind oder Amelie Fried dagegen begleitet sehr viel öfter auch Literatur aus der jüngsten Vergangenheit. Die Leser sind hier wahrscheinlich noch ausreichend vorhanden.

Früher Telefonzelle, heute Bücherschrank: Oberhausen Holten. Foto: Ralf Koss

Ralf Koss belässt es aber nicht bei den Gesprächen. Er fotografiert auch die Bücherschränke und ihren Inhalt. So entstand nach und nach auf dem Blog Bücherschrankgebiet eine Dokumentation seiner Momentaufnahmen. Für jeden Ort betrachtet er einzelne Bücher näher und wirft ein Schlaglicht auf Autorinnen und Autoren. „Einst Bestseller“, „Debatte“ oder „Fantasierte Wahrheit“ gehören zu den Rubriken, mit denen er einzelne Bücher hervorhebt.

Weitere Beobachtung: Blau scheint eine Trendfarbe bei Bücherschränken zu sein.

Als Ralf Koss das Projekt plante, sah er in den Bücherschränken vor allem Orte des Wandels. Die meisten Menschen, mit denen er sprach, suchten in Bücherschränken allerdings weniger das völlig Neue als die Kontinuität ihrer Leseerfahrung. Sie suchen das, was zu ihnen passt. In seinen Erzählungen rund um die Bücherschränke beschäftige er sich deshalb immer mehr mit den Fragen der Identität. Wie passend zu den Debatten in diesen Tagen.

Artikel teilen

Vorheriger Artikel

Gelsenkirchener Literaturstipendium „writer in residence“ wieder ausgeschrieben

Nächster Artikel

"Der Markisenmann" und Jan Weiler unterwegs im literaturgebiet.ruhr