Nachruf

Zum Tod von Anneliese „Anna“ Althoff

Ein persönlicher Nachruf von Ulli Langenbrinck

Anneliese "Anna" Althoff (rechts) mit Fasia Jansen auf der Frankfurter Buchmesse 1984

Anneliese „Anna“ Althoff  (16.9.1930 – 4.11.2020)

Anna war eine herzliche, kämpferische, großzügige und zutiefst solidarische Freundin.

Ich habe Anna in den 1970er Jahren über Walter Kurowski, KURO, kennengelernt. Es war die Zeit der Chile-Solidarität, die Anna sehr konkret praktizierte, der Anti-Apartheid-Bewegung, der Nelken-Revolution in Portugal. An Annas Wohnungstür am Josefplatz in Oberhausen-Styrum – sie weigerte sich hartnäckig, die neue Bezeichnung „Martin-Heix-Platz“ zu akzeptieren – steckte der Schlüssel Tag und Nacht außen im Schloss. Annas Wohnung war schon damals und blieb über Jahrzehnte eine Art Schaltzentrale der quirligen und stetig wachsenden „Weiberbande“ – mit Fasia Jansen, die, wie Annemarie Stern, hier zeitweise lebte, Lore Hagemann, der Künstlerin Hilde Arlt-Kowski, Tina und Hertha Franzke, Inge van Suntum, der Filmemacherin Christel Priemer, den Dortmunder Hoesch-Frauen, den chilenischen Flüchtlingen Isabel Cárcamo und Pedro Holz und so vielen mehr. Ich erinnere mich an legendäre Kuchenschlachten zu Geburtstagen oder an einem x-beliebigen Tag, an herzhafte politische Diskussionen, an viel Lachen und unglaublich große und echte Solidarität und Hilfsbereitschaft. Für mich als kleine 18jährige waren Anna und ihre Welt eine Offenbarung, die mich bis heute geprägt hat.

Anna hat immer die unterschiedlichsten Menschen um sich gesammelt. Sie war die temperamentvolle Achse, die geborene Netzwerkerin (wenn es den Begriff damals schon gegeben hätte), die Macherin, die Verlegerin, die Aktivistin, die Freundin, die Familienfrau, die alles zusammenhielt, organisatorisch sowieso, aber auch bei Konflikten vermittelnd. Wenn ich sie besuchte, schaffte sie etwa noch mal eben telefonisch ein paar Hindernisse für Fasias Konzerttour aus dem Weg, organisierte Schlafplätze für die Friedensdemo am Wochenende, kochte Kaffee, witzelte über diesen oder jenen Politiker, packte schnell nebenbei Asso-Bücher ein – und wollte genau wissen, wie es mir gehe. Ihr selbst ging es immer gut, obwohl sie seit ihrer Scharlacherkrankung als Kind zeitlebens unter bösem Gelenkrheuma und an Herzproblemen litt. In Annas Leben war fast 90 Jahre lang immer so viel los, dass einem schwindlig werden konnte. Wie hat sie das nur geschafft?

Wenn ich Annas herausragende Eigenschaften oder Verhaltensweisen benennen sollte, würde ich sagen: Mut und Solidarität. Geprägt von den Erfahrungen ihrer Kindheit ziehen sich Mut und Solidarität als roter Faden durch ihr ganzes Leben.

Als 1930 geborenes Kind erlebt Anna Faschismus und Krieg. Ihr Vater Hans, genannt Jan, betreibt eine Druckerei, ist Kommunist und aktiv im Widerstand. Anna ist drei Jahre alt, als er zum ersten Mal inhaftiert wird („Schutzhaft“), weitere Verhaftungen folgen. 1936 ist Hans wieder in Gestapo-Haft, diesmal in Recklinghausen, und um unter der Folter niemanden zu verraten, versucht er, sich beim Verhör mit einem Sprung aus dem Fenster umzubringen. Doch er überlebt schwerverletzt. Später wird er an die Front gezwungen.

Die Mutter, Dorothea, genannt “Dorchen”, ist aktive Antifaschistin und gläubige Katholikin. 1948 wird sie als Ehefrau eines Kommunisten exkommuniziert, worauf sie mit würdevollem Stolz reagiert. Die Situation bei den Althoffs erinnert stark an „Don Camilo und Peppone“ – die Mutter baut an religiösen Feiertagen einen kleinen Altar im Hausflur auf, der Vater stellt die Leninbüste ins Fenster. Verbissenheit und Dogmatismus gibt es nicht in Annas Elternhaus, stattdessen Haltung und persönliche Integrität.

Der Widerstand gegen das Naziregime, die Verfolgung, die Haft, die Bombennächte, die Angst in den Luftschutzbunkern, das Elend – ohne Mut und Solidarität geht gar nichts. Das hat Anna gelernt und nie vergessen. Und wie viele andere junge Menschen will auch sie kaum glauben, dass gleich nach dem Krieg dieselben Nazis wieder mitmischen und die gleichen Besitzverhältnisse restauriert werden. Auch die Remilitarisierung lehnt sie ab. Anna tritt in die Freie Deutsche Jugend (FDJ) ein und setzt sich in einer Jugendgruppe der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) konkret für die Verfolgung von Naziverbrechen ein.

1951, beim Internationalen Festival der Jugend und Studenten in Ost-Berlin, lernen sich Anna und Fasia kennen. Anna ist dort als Mitglied der Niederrheinischen Tanz- und Trachtengruppe der Naturfreundejugend, in der sie viele Jahre aktiv ist, Fasia Jansen als sehr junge politische Sängerin, die sich auf dem Akkordeon begleitet. Eine wunderbare menschliche wie politische Freundschaft entsteht: Anna und die von den Nazis als „unwertes Leben“ geschundene Fasia erkennen sich sofort als Seelenverwandte und bleiben ihr Leben lang eng verbunden. 1952 zieht Fasia von Hamburg nach Oberhausen und wird von Familie Althoff als “fünftes Kind” quasi adoptiert.

1952 wird Anna als Mitglied der gerade verbotenen “Freien Deutschen Jugend” (FDJ) illegaler Aktivitäten angeklagt und 1955 zu sieben Monaten Zuchthaus ohne Bewährung verurteilt. „Strafaussetzung zur Bewährung war nicht möglich, da nicht zu erwarten ist, dass sie sich künftig einer Tätigkeit in der verbotenen FDJ enthalten wird“, heißt es im Urteil. Später wird die Strafe auf sechs Monate reduziert. Jetzt tritt die Oberhausener antifaschistische Gemeinschaft in Aktion: Der damalige NRW-Justizminister, der einige Monate mit dem katholischen Kaplan Otto Kohler, einem Freund der Althoff-Familie, im KZ Dachau gesessen hatte, interveniert zu Annas Gunsten und die Gefängnisstrafe wird 1956 zur Bewährung auf sechs Jahre ausgestellt. Für Anna bedeutet das: sechs Jahre lang ist höchste Vorsicht geboten, denn jede Gesetzesübertretung, sei es beim Autofahren oder bei politischen Aktionen, können sie für sechs Monate ins Gefängnis bringen.

Das hält Anna aber keineswegs davon ab, weiter politisch zu arbeiten. Noch im gleichen Jahr schmuggelt sie sich mit Fasia und anderen verkleidet als Marsbewohner in den Düsseldorfer Rosenmontagszug, um gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik und die Wiedereinführung der Wehrpflicht zu protestieren. Als Anfang der 1960er Jahre im Ruhrgebiet die Ostermärsche losgehen, sind Anna, Fasia und Annemarie Stern, Annas langjährige Freundin aus Berlin, natürlich immer mit dabei. Annemarie Stern schreibt auch das Programm für die Kabarettgruppe Die Pfefferlinge, mit der Anna auf der Bühne steht, unter anderem bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen. Annas heimlicher Traum ist die Schauspielerei, dafür hat sie den Folkloretanz aufgegeben. „Mit dem Besen in der Hand protestiert Anneliese Althoff als  Raumpflegerin gegen die Bonner Notstandsgesetzgebung. Die junge Kabarettistengruppe Die Pfefferlinge hat den Mut zur Häßlichkeit, wenn es gilt, den deutschen Bundesbürger aus seinem politischen Halbschlaf zu rütteln“, schreibt die WAZ im Dezember 1966.

Die beiden Frauen drucken ab 1963 Liederhefte im Hosentaschenformat für die Ostermärsche, jedes Jahr ein neues, bis 1969. Die Hefte werden zu Tausenden verkauft und münden im Buch „Lieder gegen die Bombe“, das die beiden mit dem „Werkkreis für Progressive Kunst“ veröffentlichen.

1968 ist ein Jahr, in dem Vieles aufbricht. Der Vietnam-Krieg tobt, die USA massakrieren das Dorf My Lai, die Panzer des Warschauer Paktes zermalmen den „Prager Frühling“. Die Studenten in Frankreich und Deutschland rebellieren massiv – gegen den Vietnamkrieg, gegen das kapitalistische System und die Konsumgesellschaft, für Frieden, Demokratisierung, internationale Solidarität. In der studentischen Protestbewegung in Deutschland formiert sich die APO als Protest gegen die Bonner Notstandsgesetze. Der frühere NSDAP-Mann Kurt Georg Kiesinger ist Kanzler. Auch im Ruhrgebiet gärt es – durch das Zechensterben verlieren zehntausende Bergarbeiter ihre Arbeit, es gibt Streiks und Demonstrationen. 1970 entsteht aus Teilen der Dortmunder Gruppe 61 der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt. Zu beiden Gruppen haben Anna Althoff und Annemarie Stern enge Kontakte und sind mit vielen Autorinnen und Autoren befreundet, also liegt der Schritt, einen Verlag zu gründen und damit eine demokratische Gegenöffentlichkeit herzustellen, sehr nahe. Im November 1970 ist es so weit: aus den vielen politischen und literarischen Aktionen entsteht der Asso Verlag, abgeleitet von ASSOZIATION, Zusammenschluss, mit Anna Althoff als Verlegerin und Annemarie Stern als Lektorin. Die erste Veröffentlichung ist eine szenische Bearbeitung von Erika Runges 1968 bei Suhrkamp erschienenen Bottroper Protokolle. Erika Runge hatten die beiden bei einem Ostermarsch kennengelernt, es ist der Auftakt für eine langjährige Zusammenarbeit.

Mit dem Konzept, „Geschichte von unten“ zu schreiben, Alltag und Arbeitswelt zu thematisieren, ein Forum zu bieten für Autoren, die bis dahin kaum eine Chance auf Veröffentlichung hatten und unverwechselbare, ästhetisch hochwertige Bücher zu machen, trifft der Asso Verlag den Nerv der Zeit. Rund 70 Bücher entstehen in dreißig Jahren, darunter einige Klassiker der Dokumentarliteratur wie die in den 1980er Jahren erschienene Trilogie Hochlarmarker Lesebuch – Kohle war nicht alles. 100 Jahre Ruhrgebietsgeschichte (1981); die Anthologie 100 Jahre Bergarbeiterdichtung (1982) und die von Walter Köpping herausgegebenen Lebensberichte deutscher Bergarbeiter (1984).  Für 100 Jahre Bergarbeiterdichtung wird der Asso Verlag mit dem Preis der Stiftung Kunst und Kultur des Landes Nordrhein-Westfalen und der Verlage und Buchhandlungen in NRW ausgezeichnet.

Mit 45.000 verkauften Exemplaren geradezu Bestseller werden die beiden Anthologien “Lieder gegen den Tritt – Politische Lieder aus fünf Jahrhunderten” und “Lieder aus dem Schlaraffenland – Politische Lieder der 50er bis 70er Jahre”. Auch die Anthologie „Für eine andere Deutschstunde“, der gelungene Versuch, den Deutschunterricht wirklichkeitsnäher zu gestalten, wird über die Jahre zu einem Klassiker. Viele Autoren können durch Zeitgedichte und Prosatexte Profil gewinnen und eine breitere Leserschaft erreichen. Zu ihnen gehören Josef Büscher, Bruno Gluchowski, Ilse Kibgis, Kurt Küther, Hugo Ernst Käufer, Peter Maiwald, Heinrich Peuckmann, Liselotte Rauner, Erika Ruckdäschel, Günther Westerhoff und andere, die begehrte Literaturpreise erhielten.

Besonders berührt hat mich damals das Lesebuch über den antifaschistischen Widerstand in Oberhausen (Hans Müller, Dieter Linka (Hrsg.): Wir Hoch- und Landesverräter, 1983), in dem Zeitzeugen über den Widerstand in den Betrieben, Zechen und Arbeitersiedlungen, in den christlichen Gemeinden und Jugendgruppen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges berichten.

Der Asso Verlag verkauft in den 30 Jahren seines Bestehens sämtliche Bücher jenseits der branchenüblichen Vertriebsstrukturen. Mit ihrem alten Mercedes kutschiert Anna die Asso-Bücher von Büchertisch zu Büchertisch, bei allen großen und jeder noch so kleinen politischen Aktion ist der Asso Verlag präsent.

Die letzte Produktion des Asso Verlags ist das wunderbare 2004 erschienene Buch FASIA – Geliebte Rebellin, für das Marina Achenbach die Texte schrieb.

2005 verkaufen Anna Althoff und Annemarie Stern den Asso Verlag an Ernst und Ingrid Gerlach. Da ist Anna immerhin 75 Jahre alt. Und hat längst ein Lebenswerk geschaffen, für das sie mit der Ehrennadel der Stadt Oberhausen geehrt wird, eine Anerkennung, die ihr sehr wichtig ist. Bis zuletzt bleibt sie Vorsitzende der Fasia Jansen Stiftung e.V. und sorgt dafür, dass das Vermächtnis ihrer Freundin und Weggefährtin Fasia Jansen nicht in Vergessenheit gerät.

Das Thema Solidarität spielt in Annas Leben noch auf andere Weise eine sehr konkrete Rolle. Anna hat nicht nur zeitlebens die Menschen in ihrer Umgebung tatkräftig finanziell unterstützt, die, wie Fasia oder Annemarie Stern, in existenzieller Not waren. Schließlich gab sie dafür auch die Lebensversicherung her, die eigentlich als ihre Altersversorgung gedacht war. Auch die letzten acht Jahre ‚ihres‘ Asso Verlags hat sie auf diese Weise finanziert. Bis 2009 hat ihr Geld gereicht, dann wurde Anna Sozialhilfeempfängerin.

„Insgeheim habe ich Anna immer für unsterblich gehalten“, schreibt Marina Achenbach in einer Mail an Martina Franzke, die Anna fast vier Jahrzehnte begleitet und vor allem in den letzten Jahren umsorgt hat. Insgeheim haben wir alle Anna für unsterblich gehalten. Wir sind sehr traurig, dass wir unsere Freundin und Weggefährtin verloren haben. Und dankbar, dass wir Anna so lange begleiten durften.

Ulli Langenbrinck für den Vorstand der Fasia Jansen Stiftung e.V.

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