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In der Fußgängerzone wird Tag um Tag der Kampf der Prediger ausgefochten. Ein Mann stellt sich schweigend an den Ausgang des Bahnhofs und hält ein Schild hoch, auf dem zu lesen ist, dass ihn Jesus zurückgeholt habe. Ein anderer Mann steht auf der anderen Straßenseite. Er trägt schwer an einem Kantholzkreuz, er spricht von Sündenstolz und von Teufeleien. Er droht mit dem Tag des Jüngsten Gerichts, an dem alle teuren Textilien vom Leibe fallen. Noch nie hat man erlebt, dass sich die Männer zu Schichtbeginn einander einen Gruß zugerufen hätten. Sie sind entrüstet, grimmig und in großer Furcht, denn das Wissen um das Weltende, da der Himmel einstürzt und die Sünder von glühenden Erzbrocken erschlagen werden, dies Wissen um das Ende aller Enden versetzt die Prediger in Schrecken. Die Touristen starren sie an; aus der nicht unberechtigten Angst angefallen zu werden, zücken sie lieber mal nicht den Fotoapparat. Die Menschenfänger werden nicht zur Mäßigung aufgefordert, ihr Ungestüm ist beachtlich, sie beben still vor Zorn, sie reden sich in Rage – keiner, der es wagte, ihnen zu sagen, dass man um das bisschen Lebenslust hart ringen muss.
Es gilt als das Gebot der Stunde, den Leuten die Laune zu verhageln
Am anderen Ende der Einkaufsstraße verteilen Gesandte einer rivalisierenden Sekte bunte Prospekte, darin wird die baldige Himmelfahrt der Auserwählten bebildert. Nur im persönlichen Gespräch gibt man es zu: die verstockten Heiden sind Röstfleisch der Hölle, das Heil streift sie nicht. Früher hat man über die evangelikalen Spinner aus Amerika rüde gelächelt. Heute eilt man an ihnen mit versteinerter Miene vorbei. Braucht es denn nicht tatsächlich eines Übermenschen im Angesicht der Rückkehr der Plagen? Es gilt als zweifelsfrei erwiesen, dass die urtümliche Welt der Krieger der heutigen Welt der Knilche und Kanaillen weit überlegen sei. Es träumen allzuviele Schläfer von der großen Säuberung, und wer an ihren Schlaf rührt, wird als fremd und feindlich markiert. Ein Bekannter, der meine linde Kritik als Häme missverstehen wollte, schrie mich an: ‚Das Alte lebt! Das Alte schlingt sich wie eine Natter um deinen Hals und beißt dich tot!‘. Der hochnervöse junge Bürger, voll alphabetisiert und halb gebildet, häuft sich ein Geheimwissen an, das ihn dazu verleitet, die Geschichte zu korrigieren: aus Einzelgänger wird ein Einzeltäter, die Erweckung ist vollendet. Ein anderer Bekannter, der früher als professioneller Beischläfer ein auskömmliches Einkommen hatte, wirbt heute für die nationale Sache. Nicht alle neuen Patrioten sind Gigolos, aber alle gealterten Gigolos werden moralisch. Ein ex-linker Kulturbürokrat hat sich mir, in der falschen Annahme, dass ich ein hilfsvolkherkünftiger Assimilant sei, anvertraut. Er hackte mit dem Kinn in Richtung zweier bekopftuchter Studentinnen und sagte: „Ich will keine Moschee in meiner Nachbarschaft!“. In seinen wilden Zeiten bekannte er sich zu einem wilden Liberalismus, jetzt streitet er für ein wehrfähiges Christentum. Die Zukunft gehört dem soliden Kerl, dem rauhen Landsknecht, und der wahre Realist bevorratet sich heute, dass er vorbereitet sei für die morgigen Kämpfe auf den Straßen. Man muss nicht so lange warten: Nicht nur in Amerika sieht man junge Milizionäre mit dem Sturmgewehr vor der Brust, es sind junge Söldner ohne militärische Ausbildung, Wehrsporttruppler mit kranken Phantasien. Sie hassen das landfremde Gesindel, das sie im Namen ihres Volkes abwehren wollen. Die Muttersöhnchen glauben, sie seien von der Vorsehung dazu auserkoren, alles Unähnliche auszurotten. Der besondere Auftrag steift ihnen Rücken und Nacken. Das schizoide Subjekt ist ein verzweifeltes Element der Verhältnisse, es muss sich die Welt spalten, so wie das Subjekt gespalten ist. Heute gilt die Ungeduld als große Tugend.
Der attentäterische Maskulinismus wird immer stärker werden
Die alten weißen Säcke haben genug geschwätzt, die Kinder holen sich das Land zurück. Das böse Kind ist der rasende junge Mann ohne Eigenschaften. Er möchte töten, er möchte die Leichen stapeln. Das gute Kind ist die frühreife Tochter des Ministerialdirigenten oder eines Theaterintendanten, sie weiß, dass die Heutigen die Morgigen um eine erträgliche Gegenwart bringen. Sie bricht mit dem Understatement, sie möchte am liebsten die Hände der Männer brechen, die ihr auf die Schulter klopfen. Ihr Protest wird zu Unrecht als bloße Maulerei denunziert. Sie ist kein feines Mädchen und keine fügsame Magd. Ich habe erlebt, dass eine junge Frau auf dem Gesicht eines Heuchlers einen Pferdeapfel zerrieben hat: Das war ein Fest. Worin aber besteht die große Schwäche der Aktivisten? Sie bedienen sich einer hässlichen Sprache. Die Radikalen unter ihnen sind maßlos in ihrem Desinfektionseifer: Vor Corona war schon der Entseucher mit dem festen Willen zur Entkeimung in der Welt. Der Faschist von morgen wird stärker denn je auf die Begriffe der Invasionsbiologie zurückgreifen. Die Rassenhygiene gilt ihm als das Maß aller Dinge. Für ihn muss alles von fester und undurchdringlicher Beschaffenheit sein. Die Aktivistin, die der Rassenkrieger zur Feindin erklärt, wird sich vor den Attentätern vorsehen, denn der attentäterische Maskulinismus wird immer stärker werden. Ich traf auf einen guten Bekannten aus früheren Tagen. Er war ein recht arbeitsscheuer Tagedieb. Jetzt beschimpft er Schwerarbeiter aus Rumänien als Seuchenträger.
Man läuft blau, grün, gelb, rot an, und hat die Frechheit, die Afrikaner als Farbige zu bezeichnen
In keinem der vier Lokale, in denen er wirre Reden hält, bekam er ein Hausverbot. Man ist doch oft und öfter zu den Falschen tolerant. Der völkische Hanswurst träumt von der Nacht der langen Messer. Ich träume nicht, ich gehe herum und sammle Zukunftsbilder. Ein Zukunftsbild: Aufgegebene Zonen, zerstörte Gelände, verödete Viertel, in denen die Armen und Alten hausen. Sie werden als lästiges Menschenmaterial bezeichnet und verachtet. Die Coolness der kommenden Welt ist Gnadenlosigkeit. Es liegen nicht wenige Menschen in Schlafsäcken vor den Läden. Es sind immer junge Schweine, die einen Obdachlosen anzünden. Eine Frau aus einem Guteleuteviertel sagte: „Ihre Verzweiflung steigt mir stinkend in die Nase. Ich möchte mich mit diesem Zeug nicht befassen. Sobald ich sie aber sehe, mache ich mir Gedanken“. Ich glaube immer mehr an die Nützlichkeit von Pferdeäpfeln. Ein anderer arischer Prolet brüllt mitten in der Einkaufszone: „Draufschlagen! Zehn Dunkle auf einen Streich!“. Der Stolz auf die weiße Hautfarbe war schon immer recht dämlich. Man läuft blau, grün, gelb, rot an, und hat die Frechheit, die Afrikaner als Farbige zu bezeichnen. Der Dreck wird überliefert, die Hirntoten von morgen werden Massenmorde planen, in allen Winkeln der Welt. Ein Zukunftsbild: Antikrieg, die radikale Kriegsdienstverweigerung. Nicht mit dem Stecken, nicht mit dem Stock, nicht mit der Haarnadel nimmt man teil an den Kämpfen der Patrioten. Ich gebe nicht her mein Blut für die Vaterländerei. Ich gebe nicht her meinen Kopf für einen Glauben. Ich rühre keinen Finger für die Entrechtung der Armen.
Die Internettrolle sind die wahren Geisteskranken unserer Zeit
In der künftigen Zeit werde die Irrenhäusler als dunkle Klumpen von Unvernunft Millionen von Geräten verschwärzen. Der Staat spricht: Ich bin alles, du bist nichts. Der hirntote Troll schreibt: Ich bin mehr als alles. Ich bin mehr als nichts. Der Troll, der nichts eigenes zustande bringt, collagiert die Welt aus tausend Flicken Hass und einem Flicken Erbärmlichkeit. Es gibt für ihn keinen Geist, keine Seele, keine Kunst. Gern zitiert er Goebbels: „Wenn ich das Wort Kultur höre, greife ich zur Waffe“.
Es gibt für ihn nur die Weltkennzeichnung durch üble Nachrede und Angeberei. Der Nazi von morgen ist der Nazi von gestern: Er ist ein Schandmaul. Er beruft sich auf das Gerücht als das absolute Faktenwissen. Er erfindet eine Tagesneuigkeit und nennt die Zweifler besoldete Lügner. Das hat er sich von Propagandaagenturen der freien und unfreien Staaten abgeschaut: Man nennt die vernünftige Widerrede eine Absurdität, den Protest eines Paranoikers. Es ist mir manch eine Stunde verfinstert worden durch Zuschriften von Männern, die das kommende Heil und mein kommendes Unheil ausschrieben. Sie lieben die triumphale Pose, einen kurzen Augenblick der Versteinerung, um danach mit kalten und starren Augen in die Ferne zu spähen und böse zu lächeln. Das ist ihre Vision: Feuer allüberall, die Menschen brennen. Die Unbeseelten behaupten eine Beseelung, die nichts weiter ist als ein Kälteschauder, eine Gänsehaut beim Zerwerfen und Zerschmettern. Ein Zukunftsbild: Die Unterschicht wird nationaler, sie wird durch Charakterlumpen nationalisiert, die Diaspora rückt an den rechten Rand. Die Randständigen werden Mord und Totschlag ihrem großen Bekenntniswerk erklären.
Die ödeste Hupe unter Gottes Sonne
Sehe ich allzu schwarz, raune ich das Weltende herbei? Ich glaube nicht. Die heutigen Kolonialisten herrschen im Geiste ihrer Vorväter, die im Nahen Osten und in Afrika Grenzen gezogen haben, als wollten sie mit einem stumpfen Messer tief ins Fleisch schneiden. Es fliehen die Menschen aus diesen Ländern vor den Bomben des Westens. Es fürchten die Flüchtlinge den bewaffneten Pöbel des Abendlands. Es fürchtet das Volk die mähliche Umvolkung. Es fürchtet der westdeutsche die ostzonale Vaterländerei. Ich fürchte mich vor dem Irrsinn, vor der verkehrten Wert, vor der Wiederkehr der Verdrängten, die sich aus dem Ideenschutt des Faschismus bedienen. Die unkaschierte Parteilichkeit wird als Wahrheitstreue ausgegeben. Es sind nicht wenige aus meinem Bekanntenkreis zu den haselnussbraunen Patrioten übergelaufen. Was macht sie jetzt aus? Sie sind bewegt, wenn die Flagge flattert. Sie lieben eine unzernagte Heimat. Sie scheuen die Kenntnis der Faktenfülle, sie hassen den fressenden Gedanken, sie sprechen öfter von Gefühlstiefe. Es leben andererseits viele Bekannte einen Liberalismus, der sie nichts kostet: Sie wohnen in schönen Häusern in schönen Vierteln, zu denen Ölaugen, Proleten und andere Opfer keinen Zugang haben. Es ist mir unmöglich, in ein schönes Viertel zu ziehen, die Biobourgeoisie hat sich teuer eingekauft, sie liebt den Fremden nur als nicht schmutzendes Tier. Sie hasst den Chemnitzer Pogromnazi, weil er ihre Idylle vollstinkt. Morgen gibt es nur den freien Warenverkehr zwischen den hippen Vierteln und den StadtteiIen, in denen die unfitten Freaks hausen.
Was tun? Der Jammer der Armen ist echt, niemals vergessen. Die Nähe der Mächtigen meiden, sie korrumpiert. Der Faschist von gestern, von heute und von morgen ist die ödeste Hupe unter Gottes Sonne, nicht überlaufen.
Sind diese Erkenntnisse gewinnbringend? Ich hoffe doch. Oft sagt man sich (oft sage ich mir): solange mir der Arsch nicht abfällt, ist mir alles egal. Oft wird man gebeten, dass man sich mäßige, denn die Dinge regelten sich von selbst. Doch das tun sie leider nicht. Mächtige Waffe Vernunft: wenn man sich seines Verstandes bedient, sieht man klar. Morgen endet die Geschichte nicht. Sie setzt sich fort. Die Mächtigen setzen ihre Lügen von ihrer legitimierten Herrschaft in die Welt. Glaubt man sie, ist man verloren. Glaubt man sie nicht, hat man begonnen zu zweifeln, und der Zweifel ist ein guter Widerstand.
Feridun Zaimoglu, im September 2020