Nachruf

„Die Feigen sind alle reif geworden!“ – Ein persönlicher Nachruf auf Barbara Köhler

Ein Brief der Lyrikerin Anja Utler an ihre verstorbene Freundin und Kollegin aus Duisburg

Foto: Ronja Kokott

Liebe Barbara,

es muss 1998 gewesen sein, oder 1999, oder 2000. Irgendein Radiosender überträgt eine Lyriknacht, ich bin in meiner Küche und will zuhören, aber die Stimmen allesamt routiniert und starr, ihre angeblichen Gedichte sind mir keine, sie und ich können miteinander nichts anfangen, ich bin enttäuscht, gelangweilt und allein, schließlich stehe ich auf, um das Gerät abzuschalten, als sich plötzlich doch etwas rührt. Es kommt eine Stimme, an der ich höre, wie sie sich Luft nimmt, sie in Bewegung versetzt, gefärbt wieder freigibt. Umgeformt in einen Rhythmus, den sie in den ganz alltäglichen Wörtern aufspürt. Die sie so aneinanderreiht, dass sie in ihrer Wirklichkeit landen und sie auffalten. Diese Stimme trifft mich, aber nicht nur mich allein, sie streift durch den ganzen Raum. Das blaue Plastik der Tischdecke beginnt zu glühen. Die beginnende Finsternis im Zimmer wird körnig und schart sich an günstigen Stellen. Draußen schneidet das erste Grau der Sommernacht wie Seide durch den Abend. Die Stimme spricht dabei nicht von solchen Dingen. Sie spricht von Grammatik. Öffnet unsere Gefüge und verschiebt mich leichthändig dabei. Sie nimmt mich aus meiner Routine und setzt mich auf dem Boden der Tatsachen ab, zeigt mir, wie er schwebt, wie wir schweben. Ich lehne jetzt an der Spüle, etwas schwindlig von dieser lebendigen Infusion, und wünsche mir, dass diese Stimme einfach immer weiterspricht. So, Barbara, habe ich dich kennengelernt.

 

 

Und eine überzeugende Sprechweise für eine weibliche poetische Stimme. Die nicht so tut, als gäbe es kein Problem. Es aber packt bei seinen mainstreamend-hierarchisierenden Automatismen; sie bremst, auskämmt und in ihnen eine Fülle alternativer Bezüglichkeiten aufdeckt. Eine Sprechweise, würdest du vielleicht betont wissen wollen, eine von vielen denkbaren; „plurielle immortelle“ statt einer beherrscht-beherrschenden „sp/rache“, wie es in deinem Buch Niemands Frau von 2007 heißt; aufgefächerte Stimme(n) statt Parolen.

 

 

Nach diesem Sommerabend gehe ich schnellstmöglich in die Bibliothek. Damals gibt es dort Deutsches Roulette und Blue Box. Ich merke schnell: ich muss nicht enttäuscht sein, dass es nur zwei Bücher sind. Sie werden lange mehr als genug für mich sein. Absolut odysseetauglich. Ich lerne: So ist das, mit den Parolen. Sie bleiben sich in der Wiederholung immer gleich und hämmern sich das Hirn zurecht. Eine textile Flächenarbeit dagegen – zu einer solchen Facharbeiterin hatte dich die DDR ausgebildet – schimmert und wellt sich mit jeder neuen Tages- und Hirnzeit anders.

 

 

 (…) ES LEUCHTET

DIR EIN,  ERHELLT ES  ENTHÄLT  WAS  NICHTS

VERSPRICHT: OFFENE RÄUME IM GEGENLICHT.

 

Barbara Köhler, [RETINA]

 

 

Und immer wieder das Licht, flatternd, fallend, blätternd. 2016 schickst du mir Fotos mit dem Titel „lichtwien“:

Ich lehne damals also an der Spüle, von deinen Gedichten adressiert und (an)getroffen (dass du mich später einmal direkt adressieren würdest, kann ich mir so wenig vorstellen, dass ich es gar nicht versuche), beim Zuhören lerne ich: aus dem Abstrakten lässt sich Konkretes erzeugen. Körperliches. Das Abstrakte ist aus Körper gebaut. So, z.B., genau so können Gedichte politisch und poetisch zugleich sein, denke ich, können sie mit Leichtigkeit weitere, damals hingebungsvoll gepflegte Scheingegensätze auflösen, wie den zwischen Spracharbeit und ‚Welthaltigkeit‘, oder gedanklicher Schärfe und Sinnlichkeit. 2013 sagst du mir in einem Gespräch, das ich für mein Buch manchmal sehr mitreißend mit dir führe, das Gedicht gelange im Vortrag in „eine Art Schwebung“, werde etwas „Fließendes“, es sei Sprache als „Wellenfunktion“.

 

 

Schweben, ja. Aber die Voraussetzungen fürs Levitieren schaffst du, kommt mir vor, so: hinschauen und klar kriegen, öffnen und aufspießen. Auch das bestaune ich an dir: Leichtigkeit lässt sich verteilen. Das gilt nicht zuletzt für den Witz, der sich aus deiner Art Levitations-Praxis ergibt. Das genannte Gespräch haben wir in der alten, katholischen Handels- und auch Fürstenstadt Regensburg geführt; wieder daheim in Duisburg gibst du mir deine Funde weiter:

Begleitender Kommentar in der Mail: „… wiewohl sich einiges auch nicht fassen ließ, zb hinter der geschlossenen blasiuskirche das aufeinandertreffen von predigergasse und poetengässchen, mit dem warnschild „gefährliche ausfahrt“. aber sonst viel erbauliches.“

 

 

Die Großzügigkeit von Witz. Im September 2020 sitzen wir in deinem Garten in Duisburg, unter kleinen, noch harten Feigen, du klopfst dir aufs Bein und sagst, „Da, mein pop-up Tumor.“ Ich schäme mich ein wenig dafür, wie sehr ich lache, aber dann sehe ich, dass du mitlachst. Ein paar Wochen später, am Telefon, erzählst du mir, dass die Feigen alle reif wurden. Und dann sagst du „Pop-up kann man ja normalerweise wegklicken. Den aber nicht.“ Dass einmal ein Nachruf auf dich zu schreiben wäre, kann ich mir trotzdem nicht vorstellen, auch jetzt nicht. Vermutlich greife ich deshalb zur Anrede, Liebe Barbara, als lasse sich über ihre vergangene Alltäglichkeit ein Respons, ein Stück Fortsetzung herbeitricksen.

 

 

(…) DIE ZUGEWANDTHEIT DER SCHRIFT

IHR  ANSPRECHENDES  UND DIE VERSICHERUNG

ES  SEI   WIE  GESAGT  UND  BESCHRIEBEN.  WAS

STEHT KANN FALLEN (…)

 

Barbara Köhler, [RETINA]

 

 

„Ja“, sagt mein Gesprächspartner am Telefon. Es ist Sonntagabend, 10.01.2021, ich habe kurz zuvor erfahren, dass du seit zwei Tagen nicht mehr lebst und erzähle davon, wie ich dich zum ersten Mal hörte. „Ja, aber wie habt ihr euch denn dann kennengelernt?“ Ich stelle fest, dass ich das nicht weiß. Dafür weiß ich noch, wie wir uns nicht kennengelernt haben. September 2001, ich lese auf Einladung von Thomas Kling auf der Raketenstation Hombroich. Es ist einer meiner ersten Auftritte als Dichterin, ich habe aber weniger Angst vorm Auftreten als vor dem Drumherum. Beim Essen fällt mir eine Frau mit einem sehr langen Zopf auf. Sie lacht viel, strahlt freundliche, offene Aufmerksamkeit aus. „Das“, sagt Kling, „ist Barbara Köhler. Mit der unterhältst du dich jetzt.“ „Nein“, sage ich. Ich sage nicht, dass ich nicht weiß, was ich dir sagen sollte. Sollte ich dir von der blau glühenden Plastiktischdecke erzählen und wie die ersten Schritte der Nacht ein seidiger Schnitt waren? Haha. Sollte ich dir sagen, dass ich mich anlehnen musste, als ich deine Gedichte zum ersten Mal hörte? Sollte ich dich fragen, ob du mit dem Auto von Duisburg nach Hombroich gekommen bist? Kommt mir alles ungefähr gleich bescheuert vor. „So wird das nichts, meine Liebe“, sagt Kling. „Kann sein“, sage ich. Von deiner Großzügigkeit weiß ich damals noch nichts.

 

 

Wie kann es sein, dass ich nicht mehr weiß, wo ich dich kennengelernt habe? Ich vermute, das lag an dir. Du wirst es mir so leicht gemacht haben, mit dir zu sprechen, dass es sich anfühlte wie ’schon immer‘. Du wirst die Hierarchien verflüssigt haben, wie du sie in deinen Gedichten verflüssigst. Ich kenne kaum Menschen, die so wenig Macht über andere wollen, sie so wenig inszenieren, ausüben, ausspielen wollen, wie du. Und die zugleich so viel über Macht wissen, sich so brennend für sie interessieren: als Gegenstand, über den sich diskutieren, als Praxis, die sich unterlaufen lässt. Du hast vorgemacht wie: durch Zugewandtheit zum Gegenüber, in der gemeinsamen Aufmerksamkeit für eine Frage, eine Sache, im Gespräch. Statt Rollengehabe: Interessentin, persönlich Beteiligte, gemeinsamer Denkraum, in Geistesgegenwart, Präsenz die zum Präsent wird – so eine Auswahl deiner Formulierungen.

 

 

Und immer wieder deine geduldige Aufmerksamkeit für das Kleine, Kleinste:

In deinem Garten in Duisburg zeigst du auch auf ein Meer winziger Blüten, Blättchen, bodennah. Es ist die Art Pflanzen, deren Fortpflanzung manche lieber unterbinden würden. Du sagst: „Es freut mich, wie gut es ihnen hier geht.“

 

 

„(…) mir wäre was Lebendes lieber gewesen, viel lieber als all die toten Floskeln, die den Leuten aus den Mündern purzelten, wenn sie sprachen, und über die Schätze der Welt. Und ihnen das Funkeln, Glänzen und Schillern absprachen mit stumpfen, leblosen, nur habgierigen Worten. Mit ihren bürgerlichen Namen, mit ihren Besitzverhältnissen“ (aus Barbara Köhlers Vorlesung zur Ernst-Jandl-Poetikdozentur 2016: ANDERERSEITS).

 

 

Ein geteilter Raum als Ausgangspunkt für wechselseitige Bewegung, Gedeihen – bitte. Im genannten Gespräch in Regensburg erwähnst du, dass auch deine Gedichte oft mit einer „Raumvorstellung“ beginnen, etwas „Mehrdimensionale[m]“, der „Klangraum“ sei Teil davon. Beim Schreiben, sagst du, gehst du „im Not- oder Zweifelsfall eher dem Klang nach als einer Logik oder einem Bild“. Dass mich diese Aussage im ersten Moment erstaunt – von dir, der visuell arbeitenden Künstlerin! – zeigt, dass ich noch nicht verstanden habe, wie zentral der Satz „Machen Sie Unterschiede!“ für dein künstlerisches Denken und Handeln ist. Dieser Satz steht auf einem Plakat, das deinem Buch Niemands Frau beiliegt; er fordert zu einer künstlerischen Praxis, ja, einer Lebenspraxis auf, die differenziert, exakt ist, sich zu allen Parametern in Beziehung setzt. Im Dichterischen heißt er auch: Ein Gedicht, das gesprochen wird, ist etwas anderes als der nach außen strenge, „maschinelle“, wie du es nennst, Gedichtsatz mit fixer Zeichenzahl im Buch, der nach innen beweglich wird, sich verzweigt und „ausufert“. Ist etwas anderes als ein Gedicht an einer Museumswand, an einem Fenster. Ist etwas anderes als ein Gedicht auf einer öffentlichen Fläche. „Es sind unterschiedliche Wahrnehmungen“, sagst du. Die verschiedenen Bedingungen eröffnen unterschiedliche Möglichkeiten, fordern je andere Entscheidungen, setzen den Argumenten, mit denen sich den verschiedenen Formen sinnvoll begegnen lässt, logische Grenzen. Nur im Differenzieren lassen sich Unterschiede erkennen und respektieren. Das heißt für mich auch: üben, üben, üben; und die Zeit so annehmen, wie sie ein Wesen, Mensch, ein Kunstwerk schenkt.

 

 

DIE SCHICHT DURCH DIE WIR SEHEN, LICHT

EMPFINDLICH DIE SCHRIFT DURCH DIE WELT

AUSGESCHNITTEN WIRD SCHNEIDET WORT FÜR

WORT AUS DER STILLE (…)

 

So beginnt das Gedicht [RETINA], aus dem ich bereits zitiert habe. Es liegt mir in zweifacher Gestalt vor. Einmal wie hier hingeschrieben, als Gedicht aus einer Datei, das sich als Meditation lesen lässt, über Blick- und Denkspektren durch geschriebene Wörter hindurch. Und außerdem habe ich das Gedicht als Foto von seinem Originalkontext, seinem Aufbau für eine Ausstellung im Museum DKM. Darauf realisieren sich Grenzziehung und Durchlässigkeiten von Sprache, Schrift und Blick, werden körperlich, Augenschicht vervielfacht:

DKM, Foto: Barbara Köhler

Die Installation multipliziert die begrenzenden Schichten. Die Oberfläche meiner Augen, aller Augen, Berührungen in der Hirnrinde, die Folie des Texts, das Glas des Fensters, Körper des Gebäudes. Schichten von Begrenzung, Sehmembranen, du führst sie vor als die Bedingung für Wahrnehmung, Denken, Berühren. Diese Grenzen zu durchbrechen hieße, Fenster wie Gedicht zu beschädigen, die Membranen zu zerreißen, Unterschiede, Sichtbarkeit, Individualität zu zerstören. „[I]ch bin immer ganz verblüfft“, sagst du, „wenn Leute kommen mit ‚grenzüberschreitend‘. Ich bin überhaupt nicht grenzüberschreitend. Es ist eher ein Realisieren von Grenzen.“ Um diesseits „zu finden, was man nicht schon weiß“, wie es in deinem Buch Neufundland von 2012 heißt? Weil Neufundland, das „Augenblicksland, immer aufs Neue“, in der Binnendifferenzierung liegt?

 

 

Für uns, hinter dieser neu gezogenen, absoluten Grenze, nun allemal. In einem Neujahrsgruß hast du mal geschrieben: „das vergangene jahr hat viel zu wünschen übrig gelassen“. Ja. Und das neue auch schon. Aber unter all den unerfüllbaren Wünschen steckt auch das Präsent deiner unwiderruflichen Präsenz – „ich hatte prompt [den Weg nach] Happy Adventure gewählt“, heißt es in Neufundland, und wir können dir da, immer aufs Neue, noch lange hinterher. Lass dir bitte noch einen Dank für dieses multiple Geschenk nachrufen, liebe Barbara! Auch dafür, dass es diesen Sprechvorschlag enthält, mit dem sich das Skandalon deiner anwesenden Abwesenheit üben lässt:

 

 

AUCH WENN ES KEIN WORT FÜR STILLE GIBT

GIBT ES STILLE AUCH WO ES KEINE STILLE

GIBT GIBT ES SIE; DIE GRAUEN LÜCKEN IN

DEN BILDERN LEERSTELLEN LÖCHER VERLUST

ANZEIGENDE FÜRWÖRTER WÖRTER DIE FEHLEN

UND DAS GEFÜHL DAFÜR: DASS ETWAS NICHT

DA IST, DASS ES DA LEER IST, DASS SICH

NICHTS ZEIGT; DASS NICHT BRAUCHBAR IST

WORÜBER DU VERFÜGST SICH NICHT FÜGT IN

DIE KLAFFENDEN FUGEN: ZUM ZUSAMMENHALT

VON LÜCKEN UND LÜGEN, ZU EINER PERFEKT

ABGEDICHTETEN OBERFLÄCHE IN EINE REINE

ZWEIDIMENSIONALITÄT: INS BILD. ES STEHT

WEDER FEST NOCH ZUR VERFÜGUNG ES STEHT

OFFEN: STEHT DIR OFFEN (UND ALSO NICHT

ZU) – ES SAGT WAS DU NICHT WEIßT NICHT

VERSTEHST IST DAS FREMDE DAS RAUM GIBT.         [SCHATTENFUGE]

Anja Utler arbeitet als Dichterin, Essayistin und Übersetzerin in Leipzig. Ihre Gedichte wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt und in Anthologien, Zeitschriften und in einigen Ländern auch als Bücher gedruckt.

Zitiert wurde aus:

– Barbara Köhler. Niemands Frau. Gesänge. Suhrkamp: Frankfurt a.M., 2007.

– Barbara Köhler. Neufundland. Schriften, teils bestimmt. Edition Korrespondenzen: Wien, 2012.

– „[RETINA]“ und „[SCHATTENFUGE]“ habe ich einer Datei mit Gedichten für eine Ausstellung im Duisburger Museum DKM entnommen, die ich von Barbara Köhler bekommen habe. Auch das Zitat aus der Vorlesung „ANDERERSEITS (SEITENVERHÄLTNISSE 1)“ zur Ernst-Jandl-Poetikdozentur, Wien, entstammt einer mir von Barbara Köhler zugeschickten Datei.

– „Gespräch mit Barbara Köhler, 12.07.2013“, aus: Anja Utler. „manchmal sehr mitreißend“. Über die poetische Erfahrung gesprochener Gedichte. transcript: Bielefeld, 2016. S. 189-196.

– Einzelne Sätze & Wörter entstammen E-Mails von und Gesprächen mit Barbara Köhler.

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