Schreibprojekt

Sven Hensel bei STROBO:Stimmen

Sven Hensel „Steine und Veränderung“

Ein neutrales Gefühl
hält mich schützend zusammen

Wie heißt es, was macht es hier?
In U-Bahnen, Zügen, zwischen Türen und Bahnhöfen
hin und her
auf Couches einer Wohnung
in der ich nicht mehr lebe
auf Brettern
die die Welt bedeuten
in Wohnzimmern
in denen ich nicht mehr willkommen bin

Altes loslassen, Neues zulassen
und der Weg ist ungewiss
doch heilsam
wenn das Spaghettimonster
eine Tür schließt
öffnet die Entropie keine neue

Doch was bleibt übrig
nach siebenundzwanzig Jahren
dagegen sein
außer weiterzumachen und weiterzuleben
entgegen allen Erwartungen
keine Genugtuung gebend
anwenden, was gelernt
und bewusst sein
dass es bis hierhin geschafft wurde

Dieses Gefühl, dass mich begleitet
ist kein Zufall
in den Türen, die zufallen
sind Kerben, so wie meine
solang ich mich nicht verschließe, wird dieses Gefühl schwinden
es ist Arbeit
es ist Vergnügen
es ist Vergnügen an der Arbeit
es ist Vergnügen daran zu finden, Vergnügen zu fühlen

Alte Türen öffnen sich
neue Türen öffnen sich
neue Reisen werden angetreten
alte Wunden werden geheilt
neue müssen verarztet werden
meine Tür braucht einen neuen Anstrich

Ich bekomme neue Schlüssel
gebe alte ab
und tief in mir die Angst
dass alles zyklisch ist
und tief in mir die Sicherheit
dass ich vieles schon erlebt habe
und Altes nicht neu schmerzt
und Neues auch verheilt

Stärke ist Schwäche ist Stärke
und die Züge fahren
weiter nach nem Streik
ungewisser Fahrplan
doch ich kann jederzeit aussteigen
langsam erwacht
Gefallen an der Strecke
dieses Gefühl
löst sich von meinen Knochen
denn es muss mich
nicht mehr behüten

Die Last fällt ab
der Stress
die Schuld
Verletzungen archiviert

Was ein Muskel aushält
und wie viel er stemmen kann
ist ihm nicht anzusehen
er hält es durch

Ein neutrales Gefühl begleitet meinen Alltag
und hält mit aller Kraft die Tür zum Absturz zu
zum Rückfall zu Abkürzungen

Ich lasse los:
die Steine
die mir in den Weg gelegt worden sind
die Kiesel
in meinen Schuhen
das Geröll
auf meinem Pfad

Alles schleift sich zu Murmeln
mit denen man spielen kann
hübsche Geoden

Sie waren mal
hässliche Altlast, Ballast, Schund
und mit Zeit und Abstand gab ich ihnen neuen Grund

Ich pflastere mit ihnen neuen Straßenbelag
in ihm reflektiert die Sonne funkelnd bunt
Damit das, was mir einst zu schaden versuchte
nicht die Genugtuung bekommt, es geschafft zu haben

Die Kratzer und Prellungen wurden verarztet
im Mosaik aus Murmeln
die nun in meinem Weg glänzen

Sven Hensel ist Homolobbypropagandagendergagaist, Spoken Word Artist, Slam Master sowie -Poet und eines der umtriebigsten Jungtalente der letzten Jahre. 2015 wurde er U20 NRW-Meister im Poetry Slam, 2018 wurde er Vize-Erotikmeister im Poetry Slam. Im „echten Leben“ ist er für Germanistik eingeschrieben und wohnt in Bochum, organisiert mitunter von 2014-2023 den Wohnzimmerslam in Dortmund, von 2015-2023 den Dortmunder Queerslam und seit 2022 die Queer Poetry Gala Bochum im FLUID. Im Februar 2017 erschien sein erstes Buch „Aufhause – von Zugvögeln und Fernverkehrern“ im Lektora-Verlag, 2018 brachte er die „Tintenfrische III“ im selben Verlag heraus, 2019 die „Fantastische Queerwesen und wie sie sich finden“-Anthologie im Satyr-Verlag und 2021 „Lyrik ist nice und macht Spaß“ im Brimborium-Verlag. Seine Ansätze ans Schreiben verleiten zum Um-die-Ecke-denken und resultieren in unerwarteten sprachlichen Bildern, meist queer, mal laut, mal leise, aber immer Sven.

 

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„Steine und Veränderung“ von Sven Hensel ist im Rahmen des Projekts STROBO:Stimmen erschienen, eine Kooperation zwischen literaturgebiet.ruhr und STROBO. Zwölf junge Autor*innen aus dem Ruhrgebiet wurden nach ihrer Sicht auf die Welt gefragt. Jeden Monat veröffentlichen wir eine der literarischen Antworten. Hier erfahrt ihr mehr über das Projekt.

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