Lesezirkel

Zweite Runde – Nava Ebrahimi „Das Paradies meines Nachbarn“

18.03.2020
Von literaturgebiet.ruhr

Karosh liest: „Das Paradies meines Nachbarn“ von Nava Ebrahimi – lest mit und lasst uns drüber sprechen!

Nava Ebrahimi ist eine der aufregendsten Stimmen der deutschsprachigen Literatur, vielfach preisgekrönt. Für ihr Debüt „16 Wörter“ bekam sie den Österreichischen Buchpreis. „Das Paradies meines Nachbarn“ ist ein spannender Roman über das Fremde in uns selbst und unsere Verantwortung für andere.

 

Trotz Corona gab es eine Abschlusslesung mit Nava Ebrahimi – passend zum Online-Lesezirkel ebenfalls online auf YouTube. Karosh Taha und Nava Ebrahimi steigen in dem einstündigen Gespräch tief in das Buch ein und greifen eure Themen und Fragen aus der Lesezirkel-Diskussion auf:

Hier auch als Audiodatei für unterwegs:

Das denken die Mitleser*innen

  • karosh taha am 21.03.2020

    Hallo liebe Mitlesende!

    Auf der Suche nach spannenden Frühjahrserscheinungen bin ich auf Nava Ebrahimis zweiten Roman „Das Paradies meines Nachbarn“ gestoßen, der von dem erfolgreichen Produktdesigner Ali Najjar handelt. Er kommt als neuer, berüchtigter Chef in diese Agentur, wo auch Sina Khoshbin arbeitet. Heimliche Bewunderung und eine passiv-aggressive Spannung scheint die anfängliche Begegnung vom Boss und Angestellten zu prägen.
    Sina findet schnell heraus, dass Ali Najjar als Kindersoldat während des Iran-Irak-Kriegs (Erster Golfkrieg 1980-1988) gekämpft hat.
    Dem Grauen entkommen, brilliert er nun in Deutschland als der Inbegriff des „Aufsteigers“.
    Das macht den Roman für mich unheimlich spannend; einerseits diese Ali Najjar Figur, die fleischgewordene Resilienz; die Beziehung zwischen Ali und Sina – eine mögliche Vater-Sohn-Beziehung; die Auseinandersetzung mit dem Ersten Golfkrieg in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Denn der Krieg war kein rein persisch-arabischer Krieg, viele europäische Firmen, vor allem deutsche Firmen, haben sehr gut an diesem Krieg mitverdient.
    Ich bin zwar noch ganz am Anfang, aber ich vermute, dass sich der etwas lieblich klingende Titel „Das Paradies meines Nachbarn“ bis zum Ende der Lektüre angesichts der Thematik noch verwandeln wird. Wohin das Buch uns mitnimmt, darauf dürfen wir gespannt sein.

    Was denkt ihr? Ich freue mich auf eure Eindrücke!

    Viele Grüße
    karosh

  • karosh taha am 25.03.2020

    Wie findest du die Geschichte bis jetzt, liebe Gudrun?

    • Gudrun am 26.03.2020

      Zunächst hatte ich eine gewisse Abneigung, mich mit der mir fremden Welt der erfolgsverwöhnten Produktdesigner zu befassen. Ich habe mich dann aber an die „Versprechen“ des Klappentextes gehalten und bin dann sehr schnell in die eindringlichen Szenen und Sätze hineingezogen worden („das erste Mal über tote Körper gehen“ S. 34 oder „Nachts war Krieg und würde es auch immer bleiben“). Die Vermischung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft finde ich gelungen, auch wie der Iran-Irak Krieg so bedrohlich in den Roman einfließt, ja das eigentliche Thema ist, und die Kritik am Verhalten der BRD. Ein bisschen Mühe hatte ich, mich in den Charakteren zurecht zu finden, sie rücken mir jedoch immer näher. Sie sind jedenfalls Charaktere (ganz im Sinne Ali Najjars), die man nicht sofort vergisst. Bis zur Begegnung der beiden Alis und Sinas wird eine große Spannung aufgebaut. Jetzt will man es endlich wissen, was in der Vergangenheit im Iran (?) passiert ist, was Ali Najjars Leben ins Wanken bringen wird.

      • karosh taha am 28.03.2020

        Liebe Gudrun, ich finde die Werbewelt tatsächlich sehr interessant, obwohl sie mir auch sehr fremd ist, vielleicht gerade deswegen.

        Du hast Recht mit den zitierten Stellen, die du herausgepickt hast – diese halbe (?) Seite an Kriegsbeschreibung fand ich bis zur Grausamkeit anschaulich beschrieben. Ab da hatte mich das Buch in seinem Bann, die Sprache wird richtig körperlich und gleichzeitig wehrt man sich gegen diese brutale Nähe. Erstaunlich auch, dass es sich hier eigentlich um die Erinnerung von Ali Reza handelt und trotzdem eine Gegenwärtigkeit erzeugt wird – und eben wie du sagtest, diese Handlung, die in der Vergangenheit geschehen ist, Teil der Gegenwart wird und bis in die Zukunft reichen wird. Da fällt mir Salman Rushdies Satz ein, nämlich, dass die Vergangenheit ein Land ist, aus dem wir alle emigriert sind und ihr Verlust, Teil unserer menschlichen Erfahrung.
        Es stellt sich die Frage, wie die Figuren, sowohl Ali Najjar, Ali Reza, aber auch Sina die Vergangenheit verloren haben? Wie gehen diese drei unterschiedlichen Männer mit diesem Verlust um? Wie prägt die Vergangenheit ihren Charakter? Das sind gerade Fragen, die mich bei der Lektüre beschäftigen. Was meinst du?

        Vielleicht haben auch andere Lust, in die Diskussion einzusteigen? Traut euch. 😉

        Viele Grüße
        Karosh

        • Gudrun am 29.03.2020

          Mir scheint Ali Najjar der zu sein, der sich vor der Vergangenheit versucht abzupanzern, indem er diese stark nach außen wirkende Nonchalance spielt. „…wenn man nichts zu verlieren hat, kann man alles erreichen.“ Ich weiß nicht, ob ich ihm das so glauben kann. Klar will er kein Opfer sein, aber auch er hat doch wie jeder etwas zu verlieren. Würde er wirklich von heute auf morgen ganz von vorn anfangen können? Er geht ja auch weiteren Gesprächen über den Krieg aus dem Weg, wenn er sich der Blondine zuwendet.
          Seine Kritik an den Deutschen und am Westen stimmt zwar nachdenklich, auch wenn ich mir nicht ins Hemd mache, wenn es an der Tür schellt, aber zeigt meiner Meinung nach eine gewisse Arroganz, z.B. im Satz „Was bitte sollen uns die Deutschen vom Leben erzählen?“
          Der andere Ali und Sina sind mir auf jeden Fall sympathischer, da sie ehrlicher zu sich selbst sind. Ich lese Bücher ja immer eher emotional und versuche, literaturwissenschaftliche Gedanken außen vor zu halten, obwohl ich die bewusst ausgesparten Sätze in den Dialogen erzähltechnisch sehr interessant finde.

          • Dea am 15.04.2020

            Hallo an alle,

            ich habe den Roman nun auch zu Ende gelesen.

            Der Einstieg in den Roman ist mir, ähnlich wie Gudrun, schwerer gefallen als gedacht. Nicht unbedingt nur wegen der Marketingwelt, sondern auch auf sprachlicher Ebene. Es mag nur ein persönlicher Eindruck sein, aber sprachlich hat mich der Beginn nicht gepackt, viele aneinandergereihte kurze Hauptsätze, wiederholende Verwendung des Personalpronomens „Er“ – das hat es mir schwer gemacht.

            Zum Glück nimmt die Handlung deutlich an sprachlicher Fülle und Tiefe zu, sowie die Ausgestaltung der Figuren. Sina ist uns wahrscheinlich deswegen sympathischer, weil diese Figur sich ihrer eigenen Belanglosigkeit und Orientierungslosigkeit gewahr ist – er hat sich verloren, hat irgendwie kein Ziel, keine Energie, die ihn voranbringt. Da gefällt mir auch das Ende mit der Narrenkappe und der Offenheit – etwas pathetisch, dass er sich der Bedeutung seiner Zuneigung zu seiner Frau und seinen Versäumnissen in der Ferne bewusst wird. Zu dem Zeitpunkt wird er auch selbstbewusster, als er die Kontrolle über den SMS Kontakt zu seiner Frau hat.
            Ali Najjar ist meinem Empfinden nach zu blass skizziert – natürlich kauft man ihm seine Unanahbarkeit ab zu Beginn, den Einwurf der Schlafparalyse als Schattierung seiner Zweifel oder Getriebenheit kaufe ich der Figur nicht wirklich ab – auch gegen Ende nicht, als er sich den Brief vornimmt. Ich denke, dass es eine schwierige Angelegenheit ist, die Balance zwischen neutraler Darstellung der Figur und klischeehafter Überzeichnung zu halten. Für mich persönlich ist Ali Najjar zu farblos.

          • karosh am 20.04.2020

            So unterschiedlich können die Leseeindrücke sein; ich fand Ali Najjar gerade in dieser Überzeichnung als Figur attraktiv, weil er so heraussticht – er nimmt so viel Raum ein. Obwohl der Anfang zum größten Teil aus Sinas Perspektive geschrieben ist, nimmt Ali Najjar den Raum ein, sowohl in der tatsächlichen Welt als auch in Sinas Kopf.
            Er ist auf jeden Fall eine Person, an der man sich reibt. Seine Aussagen sind provokant und sollen nicht nur die Figuren aus der Reserve locken, sondern auch uns und das tun sie.
            Sein Leben und seine Vergangenheit hat er als Produkt designt, um sich interessanter zu machen, ungeachtet dessen, dass ein anderer an seiner Stelle diese Vergangenheit hatte. Aufgrund einer Entscheidung von ihm, musste jemand anderes (Ali Reza) in der Vergangenheit leiden und dieses Leid trägt er durch die Träume, Erinnerungen und eben die körperliche Versehrtheit mit sich.

            Sina gehe ich genauso so wie du, Dea, wobei ich seine Antriebslosigkeit unsympathisch fand, wie er sich als Spielball hat instrumentalisieren lassen. Es gab aber ein paar Aktionen, die haben durchscheinen lassen, dass er im Kern doch ein starker Charakter ist, dass er mit sich viel mehr im Reinen ist als Ali Najjar. Zum Beispiel als sein Lehrer ihn vor der Klasse demütigt und Sina ihn anspuckt – zugegeben: es ist keine subtile Aktion gewesen, aber welche Mittel stehen einem intellektuell unterlegenem Schüler gegenüber seinem Lehrer zur Verfügung? Wie kann er sich verbal gegen diese Demütigung wehren. In seinem erwachsenen Alter wehrt er sich, indem er Distanz gewinnt, zu seiner Frau, zu seinem Vater, als er nicht mehr auf seinen Anruf reagiert.
            Das Thema verschwundene Väter und präsente Mütter, die die ganze Erziehungsarbeit leisten, ist auch eine der wichtigsten Themen im Buch gewesen: welche Macht hatten/haben die Mütter auf das Leben ihrer Söhne? Wie stehen ihre Söhne zu emotional zu ihnen, können sie ihren Müttern verzeihen?

    • Philippa am 16.04.2020

      Liebe Dea, was meinst du mit dem letzten Punkt genau? Findest du die „empfindlichere“ Seite von Ali Najjar hinter der Fassade seiner Unnahbarkeit unrealistisch dargestellt? Oder dass die beiden Seiten nicht zusammenpassen?

      • Dea am 02.05.2020

        Mein Problem ist, dass ich ihm seine empfindliche Art nicht abkaufe, es wirkt für mich nicht authentisch füt diese Figur, gerade weil er so viel Raum einnimnt. Da überwiegt für mich bei dieser Figur eher Selbstbewusstsein als Zweifel.

        • Philippa am 07.05.2020

          Ach und ich fand die zweifelnde Seite von ihm gar nicht unrealistisch. Eher schon zu vorhersehbar, weil es doch meistens so ist, dass übermäßig selbstbewusste Menschen auf der anderen Seite ihre Probleme haben. Sina war mir aber auch nicht so sympathisch, wobei ich gedacht hätte, dass seine Figur so angelegt ist, dass sich die Lesenden mit ihm identifizieren sollen und er unsere eigene Passivität spiegelt, gerade auch in Bereichen, in denen wir Verantwortung übernehmen sollten bzw. uns mit unserem Nichtstun schuldig machen. Oder sollten wir uns von seiner Passivität abgestoßen fühlen, um uns dann am Ende des Buches eingestehen zu müssen, dass sie mehr mit uns zu tun hat, als es uns lieb ist?
          Auf jedem Fall bin ich mit keinem der Protagonisten richtig mitgegangen, das war ungewohnt.

          • karosh am 08.05.2020

            es hätte mich auch sehr verwundert, wenn Ali Najjar gar keine Selbstzweifel, keine Ängste und Unsicherheiten gezeigt hätte, angesichts seiner Vergangenheit und der Flucht ohne Eltern, scheint er die Unsicherheit den Kern der Figur zu bilden – allerdings erwächst aus dieser Unsicherheit auch eine unheimliche Resilienz.
            Philippa, was meinst du mit: seine Passivität hätte was mit uns zu tun?

            • Philippa am 14.05.2020

              Ich habe eine Parallele zwischen Sinas passiver Art, sein Leben zu leben, und dem (einen) Thema des Buches, dass wir uns durch Nichthandeln „schuldig“ machen, gesehen. (Z. B. wenn wir bei Waffen- und Giftgaslieferungen aus unseren Ländern wegschauen. Oder nicht die Verantwortung für Nebeneffekte unserer Handlungen übernehmen wie evtl. Ali Najjar.)

  • Gudrun am 28.03.2020

    Lektüre ist nun beendet. Die tragische Verkettung des Identitätstauschs und das absolute Leiden aller Charaktere haben mich berührt. Der befohlene Marsch durch das Minenfeld, die Klassenfahrt in den Krieg, grausam die Mutter, die aus ihrem Sohn einen Märtyrer machen will. Sehr gut gefällt mir der quasi offene Schluss. Ali Reza hat nur seine Zuneigung zu den Toten, Ali N. seine Schuld wie eine zweite Haut und Sina ist einfach nur da. Wird damit dem Satz, dass Iraner sein ein Scheißschicksal ist, widersprochen?

    Wo bleibt die Diskussion über das Buch?

    • karosh am 31.03.2020

      Liebe Gudrun, ich würde gerne noch andere Meinungen abwarten, bevor ich auf deinen ausführlichen Kommentar eingehe. Lass uns den anderen auch bisschen Zeit geben, in das Gespräch einzusteigen. Schönen Wochenstart, Karosh

  • Gudrun Güth am 30.05.2020

    Ich habe dem Gespräch und der Lesung auf YouTube gestern live zugehört. Es war für mich sehr interessant, euerm Gespräch zu folgen. Ich denke jetzt noch einmal neu über das Buch nach, besonders noch über die folgenden Sätze: „Sklave seines eigenen Selbstdesigns“, „zweite Möglichkeit eines Ichs“, „verspätete Identitätskrise“, „nicht an seine Vergangenheit andocken können“, „wenn ich nicht Opfer sein will, muss ich Täter sein“. Mit dem letzten Satz setze ich mich im Kontrast zu der Hauptfigur im Roman „Herkunft“ auseinander, den ich direkt nach N. Ebrahimi gelesen habe. Hier sagt die Figur, dass ihre Rebellion die Anpassung sei. Eine ganz andere Art, mit der Vergangenheit und dem Fremdsein umzugehen. Was für mich bei dem Gespräch als quasi neuer Aspekt hinzu kam, war die wichtige Rolle der Mütter. Ich muss gestehen, dass ich aufgrund der Konzentration auf die drei Protagonisten die Mütter bei der Lektüre zu wenig beachtet habe.
    Schön fand ich, dass Karosh die Leserinnenreaktionen deutlich in das Gespräch einbezogen hat.
    Danke insgesamt für diese Möglichkeit, sich mit Literatur auseinander zu setzen!

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